Neue Linken-Spitze unter Druck

Der Parteitag in Erfurt offenbart eine in weiten Teilen gespaltene Partei
Erfurt -Sie lächelt, plaudert mit den Delegierten, schlendert durch die Reihen. Von Janine Wissler ist in Erfurt eine Last abgefallen. "Ich bin erleichtert", gesteht die 41-jährige Bundesvorsitzende der Linken.
Trotz Wahlschlappen, trotz Dauerstreits und Sexismusvorwürfen hat Wissler die Wiederwahl geschafft. Der Erfurter Parteitag wählt zudem ihren Wunschpartner in die Doppelspitze: den Europapolitiker Martin Schirdewan. Der 46-jährige Berliner verkündet auch gleich: "Wir haben verstanden als Linke. Wir sind wieder da."
Aber ist die seit Jahren zerstrittene Partei gerettet nach diesen drei Tagen von Erfurt? Nach den endlosen und in großer Lautstärke geführten Debatten? Kommt sie zurück als politische Kraft? Wird die Linke gar irgendwann einmal regierungsfähig im Bund? Zweifel bleiben.
Das Phantom Wagenknecht: Ein Grund: Wisslers prominente Gegenspielerin Sahra Wagenknecht fehlt in Erfurt wegen Krankheit. Wie geht es mit ihr und ihren Anhängern weiter? Die frühere Fraktionschefin hatte den Richtungs- und Führungsstreit vorab mit Interviews befeuert und den Parteitag als "letzte Chance" bezeichnet. Ohne Wagenknecht erleidet ihr "Lager" in Erfurt etliche Niederlagen.
Wisslers Wiederwahl gehört dazu - Wagenknecht hatte "frische Gesichter" angemahnt. Auch in der Sache zieht das "Lager" Wagenknecht den Kürzeren: Die Delegierten stützen Wisslers Kurs, Russland wegen des Ukraine-Kriegs aufs Schärfste zu verurteilen - sie stimmen gegen Wagenknechts Vorstoß, die Mitverantwortung der Nato stärker zu betonen.
Mehrheiten sind nicht übermäßig groß: Nur passiert dies jeweils mit einer Mehrheit von etwa 60 zu 40. Wissler bekommt bei ihrer Wiederwahl in die Doppelspitze 57,5 Prozent der Stimmen, ihr neuer Co-Vorsitzender Schirdewan 61,3. Bei der Richtungsentscheidung zu Russland und Nato sieht es ähnlich aus. "Es ist eine sehr große Minderheit von mehr als 40 Prozent der Delegierten, die eine deutlich kritischere Haltung zur Nato einnehmen will", sagt Andrej Hunko, der Wagenknechts Linie mitträgt. Dann beschwichtigt er, die Entscheidung sei demokratisch gefallen und im Antrag des Parteivorstand stehe ja auch viel Richtiges.
Einige Delegierten sind weniger diplomatisch. In einer persönlichen Erklärung an den Saalmikrofonen kritisiert einer den Russland-Ukraine-Beschluss als "diese Scheiße". Ein anderer stellt fest: "Jetzt stehen wir im Widerspruch zu unserem eigenen Programm." Denn das fordert immer noch die "Auflösung der Nato". Eine Frau sagt zum Parteitag: "Eins ist er nicht, ein Neuanfang." Einigkeit hört sich anders an.
Gibt es jetzt Austritte? Wissler und Schirdewan werden nicht müde von Aufbruchssignalen zu sprechen, die der Parteitag sende: auch mit Beschlüssen zu Klimapolitik und sozialer Gerechtigkeit sowie mit mehr Sanktionen bei Verfehlungen wie den heftig diskutierten sexuellen Übergriffen. Einer Antwort auf die Frage, ob es doch noch zu einer Zerreißprobe kommt, weichen Wissler und Schirdewan in Erfurt aus.
Thüringens Landeschefin Ulrike Grosse-Röthig wird in dieser Hinsicht deutlich: "Ich glaube, dass wir nächste Woche Austritte erleben werden." Offen ist, ob das die Partei spaltet oder eint.