Eine „neue Realität“ für Europa: Von der Leyen übt Selbstkritik – und denkt schon an die nächste Krise

Ursula von der Leyen macht in ihrer dritten Rede zur Lage der Union große Ankündigungen in Sachen Energiekrise. Sie richtet emotionale Worte an Olena Selenska.
Straßburg – Früher Morgen in Straßburg: Die direkte Umgebung des Sitzes des Europäischen Parlaments in Frankreich lässt kaum erahnen, dass dieser Mittwoch ein besonderer Tag ist. Eine Katze sitzt auf einem Fensterbrett und blinzelt in die spärliche Frühherbst-Sonne. Irgendwo kräht ein Hahn, kleine Wohnhäuser liegen im sprichwörtlichen Schatten des Parlamentsgebäudes friedlich da.
Eine Vorahnung gab es jedoch bereits auf dem 30-minütigen Fußmarsch vom Stadtzentrum Straßburgs zum EU-Parlament; es ist ein schöner Weg, der am Fluss Ill entlang führt. Auch die Dänin Margrethe Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb, gekleidet in den ukrainischen Nationalfarben, eilt hier auf das Parlament zu. Wenig später wird sie im Plenarsaal neben Ursula von der Leyen und Olena Selenska, der Ehefrau des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Ehrengästin des Tages, stehen.
EU: Energiekrise in Europa und Russland-Ukraine-Krieg – Ursula von der Leyens Rede zur Lage der Union
Die September-Plenarwoche in Straßburg ist dominiert vom russischen Invasionskrieg in der Ukraine, der Energiekrise in Europa und den weltweiten Auswirkungen der Klimakrise. Auch Ursula von der Leyens teils emotionale Rede zur Lage der Union konzentriert sich auf diese Themen. Unter Applaus dankt die EU-Kommissionschefin zunächst Olena Selenska und ihrem Ehemann für ihren unermüdlichen Einsatz. Der Mut habe einen Namen gefunden und dieser sei der Name der Ukraine, sagt sie und beschwört in einem Anflug von Pathos das ukrainische Heldentum.
Dann wird die Kommissionspräsidentin konkreter: Noch am Mittwoch werde sie nach Kiew reisen, um Präsident Selenskyj zu treffen. Ein Überraschungsmoment. Etwaige Reisepläne waren zuvor nicht bekannt gegeben worden. Ihre Rede nutzt sie außerdem, um die Europäerinnen und Europäer auf herausfordernde Monate einzustellen und einen Gesetzesvorschlag anlässlich der Energiekrise anzukündigen. Dabei bringt sie auch wieder eine Abschöpfung von Übergewinnen bestimmter Energiekonzerne ins Spiel.
Ursula von der Leyen: Rede zur Lage der Union – Sanktionen gegen Russland bleiben bestehen
Ursula von der Leyen ist an diesem Tag, wie mehrere ihrer Kommissarinnen, in Gelb und Blau gekleidet, den Farben der Ukraine. Eine Symbolik, die dem Thema ihrer Rede Rechnung trägt: Russland-Ukraine-Krieg. Erstmals werde zur Lage der Union debattiert, während in Europa Krieg herrsche, beginnt von der Leyen. Europa erlebe eine Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie, viel stehe auf dem Spiel. „Dies ist ein Krieg gegen unsere Energieversorgung, ein Krieg gegen unsere Wirtschaft, ein Krieg gegen unsere Werte und ein Krieg gegen unsere Zukunft“, sagt von der Leyen. Gleichwohl sei sie überzeugt, dass die Demokratie über die Autokratie obsiegen werde. Bei ihrer Rede gesteht sie auch eigene Fehler im Umgang mit Russland ein: „Wir hätten auf die Warnrufe innerhalb der Union hören sollen“, sagt die Kommissionschefin mit Verweis auf Polen und die baltischen Länder.
Passend dazu kündigt von der Leyen an, dass die Sanktionen gegen Russland von Dauer sein werden. „Das ist der Preis für Russlands und Putins Weg der Zerstörung und des Todes.“ Moskau selbst trage die Verantwortung dafür, dass die russische Wirtschaft stark leide. Bei ihrer Reise nach Kiew werde es nun darum gehen, wie die Ukraine einen vollständigen Zugang zum Binnenmarkt der Europäischen Union erhalten könne. Zusätzlich verspricht sie der Ukraine eine Soforthilfe von 100 Millionen Euro zum Wiederaufbau der Schulen. Dabei werde sie eng mit Olena Selenska zusammenarbeiten.
Schulkinder in der Ukraine sind es auch, die von der Leyen zu einem der emotionalsten Sätze ihrer Rede verleiten: „Stellen Sie sich das mal vor, Sie bringen morgens Ihr Kind in die Schule und wissen nicht, ob Sie es abends noch wiedersehen.“ Sie selbst hat sieben Kinder großgezogen.
Energiekrise: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen kündigt Energiepreis-Deckelung an
Europa habe seit Kriegsausbruch an der Seite der Ukraine gestanden und werde dies weiterhin tun, betont die Kommissionschefin. Mehr als 19 Milliarden Euro seien bislang an finanzieller Unterstützung in die Ukraine geflossen, militärische Hilfen nicht eingerechnet. Aktuell sei zu sehen, wie Russland aktiv den Energiemarkt Europas sabotiere. Der Staatenbund müsse sich an eine neue Realität anpassen.
Diese neue Realität bringt offenbar auch die Kommissionschefin dazu, Maßnahmen anzukündigen, die noch bis vor Kurzem undenkbar gewesen wären. Etwa, dass Firmen, die Elektrizität nicht aus Gas herstellen, einen Teil ihrer Gewinne abgeben. Zur Entlastung der Verbraucherinnen und Verbraucher stellte von der Leyen einen Gesetzesvorschlag in Aussicht, um hohe Energiepreise zu deckeln und Übergewinne abzuschöpfen. „Unser Vorschlag wird mehr als 140 Milliarden Euro für die Mitgliedstaaten bringen, um die Not unmittelbar abzufedern“, äußert von der Leyen.
Von der Leyens „Rede zur Lage der Union“: „Europa wird die Oberhand behalten“
Im Bereich erneuerbarer Energien stehe ein großer Wandel bevor. Auch angesichts der Klimakrise, so die Chefin der Brüsseler Behörde, mit Verweis auf die verheerenden Waldbrände diesen Sommer. Bereits jetzt werde an der Nord- und Ostsee massiv in Windenergie investiert. Deutschland werde derweil auf die Produktion von grünen Wasserstoff setzen. Sogar eine europäische „Wasserstoff-Bank“ solle gegründet werden, um den „Kauf von Wasserstoff“ zu begleiten. Dabei betont sie, dass es ein Fehler gewesen sei, derart lange auf fossile Brennstoffe zu setzen. Ein erneuter Fehler dieser Größenordnung müsse verhindert werden, sagt von der Leyen – mit Blick auf China. Europa brauche neue verlässliche Partnerschaften für Seltene Erden und Lithium, um die Abhängigkeit von Peking zu verhindern. Apropos China: von der Leyen mahnt die Verteidigung der Demokratie auch vor trojanischen Pferden an, wie etwa der Einflussnahme der Volksrepublik. Zum defizitären Zustand der Rechtsstaatlichkeit etwa in Ungarn, und damit in den eigenen Reihen der EU, schwieg sie sich hingegen aus.
Verlässliche Partnerschaften brauche Brüssel außerdem in der Außenpolitik, um die Demokratie zu schützen und auszuweiten. Dabei sagt sie in Richtung der Ukraine, Georgien und der Westbalkanländer: „Die Union ist ohne Euch nicht komplett.“
Es ist die dritte Rede zur Lage der Union der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die dritte Rede in Krisenzeiten. Angelehnt ist diese an die Tradition der „State of the Union Address“, der alljährlichen Rede amtierender US-Präsidenten. Am Nachmittag sollte die EU-Kommission die Pläne für den Energiemarkt vorstellen. Von der Leyen dürfte sich dann bereits auf dem Weg nach Kiew befinden. Um der Zahl drei treu zu bleiben: Es ist ihre dritte Reise in die Ukraine seit Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges. Im Gepäck hat sie ihre bei der Rede zur Lage der Union bekräftigte Überzeugung, dass „Putin scheitern und die Ukraine und Europa die Oberhand gewinnen“ werde.