Getrübte Freude in Ukraine

Russland rückt im Gebiet Luhansk vor - Gaskrise Thema bei EU-Gipfel
Kiew -Die Ukraine kann sich als frischgebackener EU-Beitrittskandidat wie die Republik Moldau Hoffnungen auf eine Zukunft im gemeinsamen Europa machen. Zugleich aber wird die militärische Lage im östlichen Gebiet Luhansk für die ukrainische Armee immer brenzliger.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj würdigte den EU-Kandidatenstatus für sein Land als einen historischen Moment. "Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU", betonte er nach der Entscheidung der Staats- und Regierungschefs der EU beim Gipfel in Brüssel. Zugleich sei dies aktuell der größte mögliche Schritt zur Stärkung Europas, "während der russische Krieg unsere Fähigkeit auf die Probe stellt, Freiheit und Einheit zu wahren.
Selenskyj hatte sich in den vergangenen Monaten massiv für eine Beitrittsperspektive starkgemacht. Er bekräftigte nun in seiner täglichen Videoansprache, dass die Ukraine in der Lage sei, ein vollwertiges EU-Mitglied zu werden.
Die von Russland angegriffene Ukraine und das kleinere Nachbarland Moldau sind offiziell EU-Beitrittskandidaten. Das beschlossen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die anderen 26 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am Donnerstagabend beim EU-Gipfel in Brüssel. Bosnien-Herzegowina und Georgien könnten demnächst folgen, sobald sie bestimmte Reformen erfüllen.
Die Freude der Ukraine über eine EU-Perspektive wird getrübt von weiteren russischen Vorstößen bei Kämpfen im Osten des Landes. Am 24. Juni ist Russlands Überfall auf die Ukraine genau vier Monate her - und ausgerechnet an diesem Tag muss sich die ukrainische Armee im Osten des Landes in der Großstadt Sjewjerodonezk geschlagen geben. "Es ist jetzt eine Situation, in der es keinen Sinn macht, in zerschlagenen Stellungen auszuharren", sagt Serhij Hajdaj, der Gouverneur des Gebiets Luhansk, dessen Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk ist. Die ukrainischen Verteidiger hätten das Kommando zum Rückzug erhalten. Die schwer umkämpfte und völlig zerstörte Industriestadt war bis zuletzt einer der wenigen Teile des Gebiets, in dem russische Soldaten und prorussische Separatisten noch nicht vollständig die Kontrolle übernommen haben.
Schon seit Wochen konzentriert sich Russlands Armee auf Angriffe im Donbass. Vor knapp zwei Wochen hieß es von ukrainischer Seite, landesweit fielen täglich bis zu 100 Soldaten aus den eigenen Reihen. Kämpfe man nun in Sjewjerodonezk weiter, steige diese Zahl massiv, sagt der Gouverneur. Auch in der Nachbarstadt Lyssytschansk auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Siwerskyj Donez sieht es aus ukrainischer Sicht düster aus: Russische Truppen sind bereits an den Stadtrand vorgedrungen. Mehrere umliegende Siedlungen sind erobert.
Beim EU-Gipfel wurde am Freitag derweil über die Gaskrise debattiert, die für Deutschland und die gesamte Europäische Union eine große Gefahr darstellt. Irlands Regierungschef warnte, man stehe "vor einem sehr schwierigen Winter". Das gilt auch für Deutschland, das zu denjenigen EU-Ländern gehört, die besonders abhängig von russischem Gas sind. In der EU schauen nun viele auf die Lage in der größten Volkswirtschaft der EU: "Wenn Deutschland in Probleme gerät, dann hat das einen enormen Einfluss auf alle anderen europäischen Länder, auch auf unser Land", sagte Belgiens Ministerpräsident Alexander De Croo.
Doch was können die EU-Staaten gemeinsam gegen die Gasknappheit tun? Darüber gibt es Uneinigkeit. Zwar hatten sie sich bereits im März darauf verständigt, ihre Kaufkraft zu bündeln und gemeinsam Gas einzukaufen. Doch Länder wie Italien oder Belgien wollen deutlich radikalere Maßnahmen und dringen etwa auf einen Preisdeckel auf EU-Ebene, so dass Verbraucher entlastet würden. Spanien und Portugal haben dafür bereits nationale Ausnahmen.