Proteste in China: Darum gehen die Menschen jetzt auf die Straße
Das gab es seit Jahrzehnten nicht mehr: China wird von einer heftigen Protestwelle erschüttert. Wir erklären die Hintergründe der Demonstrationen.
München/Peking/Shanghai – Seit dem Wochenende gehen die Menschen in China auf die Straße, um gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung zu demonstrieren. Es sind offenbar die größten Proteste, die das Land seit der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung im Jahr 1989 gesehen hat. Noch ist nicht abzusehen, wie sich die Lage in den nächsten Tagen entwickeln wird. Wir versuchen, die wichtigsten Fragen zu beantworten.
Warum gehen die Menschen in China jetzt auf die Straße?
Während der Rest der Welt versucht, mit dem Coronavirus zu leben, geht China seit fast drei Jahren mit Lockdowns und Ausgangssperren gegen jeden noch so kleinen Ausbruch vor. Unmut über diese harte Null-Covid-Politik gibt es schon seit längerem, immer wieder kommt es auch zu lokalen Protesten. Neu ist, dass diesmal nahezu zeitgleich in vielen Teilen des Landes die Menschen auf die Straße gingen und sich Videos und Fotos der Proteste im ganzen Land verbreiteten.
Konkreter Auslöser für die Demonstrationen vom Wochenende war ein Wohnhausbrand in Ürümqi, der Hauptstadt der Provinz Xinjiang im Nordwesten des Landes. Dabei waren am vergangenen Donnerstag zehn Menschen ums Leben gekommen. Weite Teile von Xinjiang stehen seit Monaten unter einem Lockdown, weshalb in China Vermutungen laut wurden, dass die Feuerwehr aufgrund der Corona-Maßnahmen nicht rechtzeitig am Unglücksort eintraf. Die örtlichen Behörden streiten das ab.

Die Proteste begannen am Samstag, viele davon als Gedenkveranstaltung für die Toten des verheerenden Feuers. Die Menschen gingen einerseits aus Mitgefühl mit den Toten auf die Straßen, andererseits aber auch aus Angst, selbst Opfer eines Brandes werden zu können. Denn immer wieder riegeln Chinas Behörden Wohnblöcke ab oder versperren Eingänge zu Gebäuden, wenn dort positive Fälle oder gar nur Verdachtsfälle bekannt werden. Die Furcht, bei einem Brand in der Falle zu sitzen, ist groß.
Richten sich die Proteste auch gegen Chinas autoritäres System oder nur gegen die Corona-Maßnahmen?
Schwer zu sagen. In Einzelfällen dürfen sich die Proteste auch gegen das System an sich richten. So wurden etwa Slogans wie „Nieder mit Xi Jinping“ skandiert, auch ein Ende der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei Chinas wurde vereinzelt gefordert. Für Aufsehen sorge bereits vor einigen Wochen ein Protest an einer Straßenbrücke in Peking, als ein Mann, der später „Bridge Man“ getauft wurde, Protestbanner gegen Staats- und Parteichef Xi entrollt. „Entfernt den Diktator und Verräter Xi Jinping“, stand darauf zu lesen. Generell aber dürften es den Demonstranten, die aktuell auf die Straße gehen, vor allem um die Corona-Maßnahmen gehen, die seit Monaten für Frust sorgen.
Wo finden die Proteste statt?
Proteste werden seit dem Wochenende aus vielen Städten in China gemeldet, Bilder und Video davon verbreiten sich über die sozialen Netzwerke, die in China allerdings streng zensiert werden. Die größten Proteste fanden offenbar in der Hauptstadt Peking statt sowie in der Wirtschaftsmetropole Shanghai, dort vor allem in der Ürümqi-Straße, die nach der Hauptstadt von Xinjiang benannt ist. Aber auch in Chengdu im Westen des Landes, in Guangzhou im Süden, im zentralchinesischen Wuhan und anderswo kam es zu Protesten.
Wie sehen die Proteste aus?
Die Proteste in China nehmen viele Formen an. Die Menschen gehen auf die Straße, rufen Slogans, halten Schilder in die Luft, manchmal aber auch einfach nur ein weißes Blatt Papier. Weiß ist in China die Farbe der Trauer; ein leeres Blatt Papier ist aber auch ein stiller Protest gegen die massiv eingeschränkte Meinungsfreiheit in der Volksrepublik. Andere singen die Internationale oder China Nationalhymne, den „Marsch der Freiwilligen“. Wieder andere pfeifen den Protestsong „Do You Hear the People Sing?“ aus dem Musical „Les Misérables“. An Universitäten wurden Zettel an Wände geklebt, die „Freiheit“ fordern. In den sozialen Netzwerken in China, etwa bei Weibo, finden sich derzeit so gut wie keine Hinweise auf die Proteste – die Zensoren greifen offenbar durch.
Wie reagieren die Behörden?
Vor allem in Shanghai kam es zu mehreren Verhaftungen. Die Polizei setzte zudem Schlagstöcke und gepanzerte Fahrzeuge ein, wie auf mehreren Videos zu sehen ist. In Shanghai wurde zudem ein Journalist der BBC festgenommen und nach eigenen Angaben von Polizisten misshandelt. „Journalisten mehrerer Medien wurden von der Polizei körperlich bedrängt, während sie über die Unruhen berichteten“, teilte der Club der Auslandskorrespondenten in China am Montag mit.
Wie berichten die chinesischen Medien?
Chinas Staatsmedien berichten nicht über die Demonstrationen. In der Volkszeitung, dem offiziellen Parteiblatt von Chinas Kommunisten, erschien am Montag ein Kommentar, der die Corona-Maßnahmen der Regierung verteidigte – offenbar eine Reaktion auf die Proteste: „Sei nicht unschlüssig, weiche nicht ab, bewahre die strategische Entschlossenheit, vertraue fest auf den Sieg“, heißt es in dem Artikel.
Bei einer Pressekonferenz am Montag in Peking antwortete ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums auf die Frage eines ausländischen Journalisten nach den Demonstrationen, die Frage entspreche nicht den „Fakten“, und erklärte: „Wir glauben, mit der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und der Unterstützung des chinesischen Volkes wird unser Kampf gegen Covid-19 erfolgreich sein.“
Warum verfolgt China eine Null-Covid-Politik?
In China steigen die Fallzahlen seit Tagen, zuletzt wurden mehr als 40.000 Neuinfektionen gemeldet. Chinas Regierung weigert sich dennoch bislang, westliche Impfstoffe im Kampf gegen das Coronavirus einzusetzen – offenbar aus Nationalstolz. Die chinesischen Vakzine sind zwar auch sehr effektiv, allerdings erst nach der dritten Impfung. Das Problem ist, dass Stand Mitte November nur zwei Drittel der über 80-Jährigen zwei Impfdosen erhalten haben, den dritten Piks sogar nur 40 Prozent. Chinas Regierung fürchtet also Hunderttausende Tote, sollte sie der Pandemie freien Lauf lassen. Außerdem verweist Peking immer wieder darauf, dass das Gesundheitssystem des Landes weniger leistungsfähig sei als in westlichen Staaten. Das trifft allerdings auch auf viele andere Länder wie etwa Indien zu – und dort geht man längst viel entspannter mit dem Virus um. Warum Peking nicht versucht, die Impfquote mit gezielten Kampagnen zu erhöhen, ist rätselhaft.
Sind Proteste in China selten?
Nein. In China kommt es immer wieder zu Protesten, Menschenrechtler und Experten zählen Tausende Vorfälle im Jahr. Allerdings richten sich diese Proteste meist gegen Ungerechtigkeiten auf lokaler Ebene – korrupte Beamte, ausstehende Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen oder als unfair empfundene Covid-Maßnahmen. Dass in mehreren Städten zeitgleich wegen desselben Problems demonstriert wird, gab es seit Jahrzehnten nicht mehr.