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Blindlings ins Verderben gerannt

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Wie weit darf Gesellschaftskritik gehen? Wo hört Kunstfreiheit auf? Wo beginnen Rassismus und Antisemitismus? All diese Fragen wollen eine klare Grenze ziehen zwischen dem, was erlaubt sein soll, und dem, was verboten gehört, weil es Hass sät und stigmatisiert. Die Praxis jedoch zeigt immer wieder: Wo der Spaß aufhört und die Beleidigung beginnt, ist subjektiv. Als das Satiremagazin "Titanic" den Papst in gelbgefleckter Soutane zeigte und behauptete, eine "undichte Stelle" ausgemacht zu haben, wogte die Empörung bei vielen Katholiken hoch. In religionsfernen Milieus zuckte man mit den Schultern. So war es auch mit dem jetzt abgehängten Banner "People's Justice" des Künstlerkollektivs Taring Padi auf der documenta. Offensichtlich konnte es jahrelang immer wieder gezeigt werden, ohne dass irgendjemand Anstoß daran nahm - in Australien und in Indonesien: einem Land, das bis heute keine offiziellen Beziehungen zu Israel unterhält und das Judentum als Religion nicht anerkennt. "Wir haben alle darin versagt, in dem Werk die antisemitischen Figuren zu entdecken", hat das Kuratorenteam Ruangrupa zerknirscht um Entschuldigung gebeten. Sich dieses Versagen vorzustellen, fällt den Deutschen, die Juden millionenfach vergast haben, in der Tat sehr schwer. Wenn man sich vor Augen hält, dass in Indonesien (274 Millionen Einwohner) heute offiziell um die 20 (!) Juden leben, wird zumindest verständlicher, warum man dort kaum weiß, worüber wir hier reden. Weit schlimmer ist: Hier hätte man all das wissen können, sollen und müssen. Das Desaster war eines mit Ansage. Wie es um das Verhältnis der Regierungen von Indonesien und Israel steht, findet man nicht nur in Geheimdossiers. Klar war auch, dass kollektive Kunstprozesse mangelnde Verantwortlichkeiten mit sich bringen. Beides mit Maßnahmen zu flankieren, die den Antisemitismus-Eklat hätten vermeiden helfen, wäre leicht gewesen. Stattdessen haben sich alle Verantwortlichen blindlings aufeinander verlassen - von der Direktorin bis zum Aufsichtsratsvorsitzenden, dem Oberbürgermeister von Kassel. Schade für die schöne Kunstschau. Jetzt fordert der Bund autoritär mehr Einfluss. Ob das hilft, ist aber zweifelhaft. Denn wir brauchen nicht mehr Paternalismus und Bürokratie. Es reicht schon mehr gesunder Menschenverstand. © roe

Wie weit darf Gesellschaftskritik gehen? Wo hört Kunstfreiheit auf? Wo beginnen Rassismus und Antisemitismus? All diese Fragen wollen eine klare Grenze ziehen zwischen dem, was erlaubt sein soll, und dem, was verboten gehört, weil es Hass sät und stigmatisiert. Die Praxis jedoch zeigt immer wieder: Wo der Spaß aufhört und die Beleidigung beginnt, ist subjektiv.

Als das Satiremagazin "Titanic" den Papst in gelbgefleckter Soutane zeigte und behauptete, eine "undichte Stelle" ausgemacht zu haben, wogte die Empörung bei vielen Katholiken hoch. In religionsfernen Milieus zuckte man mit den Schultern. So war es auch mit dem jetzt abgehängten Banner "People's Justice" des Künstlerkollektivs Taring Padi auf der documenta. Offensichtlich konnte es jahrelang immer wieder gezeigt werden, ohne dass irgendjemand Anstoß daran nahm - in Australien und in Indonesien: einem Land, das bis heute keine offiziellen Beziehungen zu Israel unterhält und das Judentum als Religion nicht anerkennt.

"Wir haben alle darin versagt, in dem Werk die antisemitischen Figuren zu entdecken", hat das Kuratorenteam Ruangrupa zerknirscht um Entschuldigung gebeten. Sich dieses Versagen vorzustellen, fällt den Deutschen, die Juden millionenfach vergast haben, in der Tat sehr schwer. Wenn man sich vor Augen hält, dass in Indonesien (274 Millionen Einwohner) heute offiziell um die 20 (!) Juden leben, wird zumindest verständlicher, warum man dort kaum weiß, worüber wir hier reden.

Weit schlimmer ist: Hier hätte man all das wissen können, sollen und müssen. Das Desaster war eines mit Ansage. Wie es um das Verhältnis der Regierungen von Indonesien und Israel steht, findet man nicht nur in Geheimdossiers. Klar war auch, dass kollektive Kunstprozesse mangelnde Verantwortlichkeiten mit sich bringen. Beides mit Maßnahmen zu flankieren, die den Antisemitismus-Eklat hätten vermeiden helfen, wäre leicht gewesen. Stattdessen haben sich alle Verantwortlichen blindlings aufeinander verlassen - von der Direktorin bis zum Aufsichtsratsvorsitzenden, dem Oberbürgermeister von Kassel. Schade für die schöne Kunstschau.

Jetzt fordert der Bund autoritär mehr Einfluss. Ob das hilft, ist aber zweifelhaft. Denn wir brauchen nicht mehr Paternalismus und Bürokratie. Es reicht schon mehr gesunder Menschenverstand.

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