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Ahrtal vor langem Wiederaufbau

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Damals und heute: Meterhoch türmen sich am 19. Juli 2021 Wohnwagen, Gastanks, Bäume und Schrott an einer Brücke über der Ahr in Altenahr-Kreuzberg (links). Knapp ein Jahr später wächst Gras auf der ehemaligen, historischen Eisenbahnbrücke FOTO:S: DPA © dpa

Verzögerungen zerren an den Nerven der Bewohner

Altenahr -Am ersten Jahrestag der Ahr-Flut erinnert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die mindestens 134 Todesopfer in dem Flusstal. Als "eine Erfahrung, die sich tief eingeprägt hat", bezeichnet er bei einem Besuch das Schicksal des Vaters von Wilfried Laufer, der Chef eines Weinlokals in Altenahr ist. Der 83-jährige Vater sei in der Flut ertrunken - und erst Tage später gefunden worden. Steinmeier nimmt sich am Donnerstag auf der Terrasse der gerade erst wiederaufgebauten Weinstube im Beisein der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) viel Zeit, um mit Betroffenen, Helfern und Kommunalpolitikern zu sprechen.

Rasch wird unter Sonnenschirmen bei harmlosem hochsommerlichen Wetter klar: Der Wiederaufbau im Ahrtal mit rund 9000 verwüsteten Häusern und zahlreichen zerstörten Verkehrswegen zieht sich noch lange hin. Das Staatsoberhaupt im dunklen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte spricht neben immer noch unbewohnten und beschädigten Häusern mit dunklen Fensterhöhlen ohne Scheiben von den "nächsten Jahren".

Andre Bender vom Helferstab des einst so touristischen Rotweingebietes sagt: "Grob geschätzt haben wir hier noch einen Dauerlauf von fünf bis zehn Jahren."

Schleppende Zahlungen aus dem Wiederaufbaufonds mit komplexen Antragsformularen, Debatten mit Versicherungen, ausgebuchte Gutachter und Handwerker, fehlende Baumaterialien, Inflation und steigende Zinsen - für Verzögerungen gibt es viele Gründe.

Die parteilose Landrätin des Kreises Ahrweiler, Cornelia Weigand, sagt, viele Anwohner hätten angesichts anfänglicher Versprechungen von rascher und unbürokratischer Hilfe erst gedacht, der Aufbau gehe schneller. Nun zerrten die Verzögerungen an den Nerven. "Das polarisiert", warnt Weigand. Die Gesellschaft im Ahrtal dürfe nicht "auseinanderbrechen".

Auch der Bürgermeister des ebenfalls teilzerstörten Winzerdorfs Dernau, Alfred Sebastian, hat den Eindruck, "dass die Stimmung langsam kippt". Der Wiederaufbau sei auch eine Frage des Alters: Junge Anwohner schauten eher nach vorne und bauten wieder auf, ältere Bürger zögerten. Sebastian spricht auch die Verseuchung vieler Häuser mit Heizöl in der Flut an: Erst vergangene Woche habe in Dernau ein Ehepaar im Alter von Mitte 80 erfahren müssen, dass sein Haus nach fehlgeschlagenen Rettungsversuchen nur noch abgerissen werden könne.

In Dernau besucht Bundespräsident Steinmeier eine Schreinerei und ein Weingut. Auch dessen Chefinnen, Meike und Dörte Näkel, haben nach eigenen Worten Traumatisches erlebt: Die Wassermassen haben sie weggespült - nur das stundenlange Ausharren auf einem Baum hat ihr Leben gerettet.

Das Weingut hat einen Millionenschaden erlitten. Mit Wäscheklammern an einem Bauzaun befestigte Fotos künden von der Katastrophennacht im Betrieb. Die bundesweite Unterstützung von Winzern und Helfern habe ihnen viel geholfen, erläutern Meike und Dörte Näkel. Viel Hilfsbereitschaft nach der Horrorflut - das hört Staatsoberhaupt Steinmeier auch von etlichen anderen Flutopfern.

Am Donnerstagnachmittag wollte Steinmeier nach Euskirchen in Nordrhein-Westfalen weiterreisen, um an einem Gedenkgottesdienst für dortige Flutopfer teilzunehmen. Die Erinnerung an die Opfer sollte laut Landesregierung verbunden werden mit einem "sichtbaren Signal für den Zusammenhalt und den gemeinsamen Aufbruch". Nach der von einem extremen Starkregen ausgelösten Sturzflut im Ahrtal ist es für den Bundespräsidenten der dritte Besuch im nördlichen Rheinland-Pfalz gewesen. Er hat am 1. September 2021 beim Trauerstaatsakt am Nürburgring in der Eifel eine Ansprache gehalten und am 10. Oktober Hochwassergebiete im Ahrtal besucht.

Die Flutkatastrophe im Juli 2021 kostete in Deutschland mehr als 180 Menschen das Leben: 135 in Rheinland-Pfalz und 49 in Nordrhein-Westfalen. Mehr als 800 Menschen wurden teils schwer verletzt. Ganze Orte wurden zerstört. Auslöser für die Sturzfluten vom 13. bis 15. Juli war das Tiefdruckgebiet "Bernd", das tagelang über Mitteleuropa festhing. In NRW sind über 180 Kommunen mit rund 20 000 Privathaushalten und 7000 Unternehmen betroffen. Rheinland-Pfalz zählt 65 000 privat Betroffene und 3000 Unternehmen. Vor allem im Ahrtal richtete die Flut schwere Verwüstungen an: etwa 17 000 Menschen verloren dadurch ihren gesamten Besitz.

Die Flut ist die teuerste Naturkatastrophe, die je in Deutschland verzeichnet wurde. Für den Wiederaufbau stellen Bund und Länder gemeinsam bis zu 30 Milliarden Euro zur Verfügung. Allerdings gibt es Kritik an dem komplizierten Online-Verfahren und den Bewilligungszeiten. In NRW wurden bis zum 1. Juli 1,6 Milliarden Euro an Wiederaufbauhilfen bewilligt, in Rheinland-Pfalz 540 Millionen Euro.

Die Hilfsbereitschaft in Deutschland war groß. Laut dem Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen wurden zudem 655 Millionen Euro für die Opfer gespendet. Tausende Menschen halfen in den betroffenen Regionen bei den Aufräum- und bei den Wiederaufbauarbeiten. epd

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Kritik in Dernau: Ein Motivwagen mit drei Affenfiguren erinnert an die Flutkatastrophe im Ahrtal. © DPA

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