Russlands Eroberung von Tschernobyl: „Eine der ernsthaftesten Bedrohungen für Europa“

Russland hat das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine erobert. Die Internationale Atomenergiebehörde ist nun besorgt.
Kiew/Moskau – Angesichts der russischen Eroberung des ehemaligen Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine* zeigt sich die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) alarmiert. Tschernobyl liegt knapp 70 Kilometer von der Hauptstadt Kiew entfernt. „Es ist unmöglich zu sagen, ob das Kraftwerk sicher ist“, sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak am Donnerstagabend. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyi, nannte den Angriff auf Tschernobyl „eine Kriegserklärung an ganz Europa.“
Land | Russland |
---|---|
Hauptstadt | Moskau |
Präsident | Wladimir Wladimirowitsch Putin |
Bevölkerung | 144,1 Millionen (2020) |
Wegen der potenziellen Unfallgefahr verfolge die IAEA die Situation in der Ukraine „mit großer Sorge“, erklärte die UN-Organisation. Sie forderte von allen Beteiligten „ein Höchstmaß an Zurückhaltung“. Eine ungesicherte Atomanlage berge große Gefahr. Zudem stellt sich die Frage, was Russland* mit der Eroberung des Atomkraftwerks bezwecken will. Laut Podoljak stelle diese Entwicklung im Ukraine-Konflikt* „eine der ernsthaftesten Bedrohungen für Europa dar.“
Ukraine-Konflikt: Russland nimmt Atomreaktor ein
Das russische Militär hatte den zerstörten Atomreaktor im Norden der Ukraine nach „erbitterten“ Kämpfen mit ukrainischen Streitkräften eingenommen, wie Podoljak mitteilte. Der Zustand der alten Reaktoranlage, der Schutzhülle über dem hochgradig radioaktiven Unglücksreaktor und des Lagers für Kernbrennstoffe sei nicht bekannt. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 war das bis schwerste Atomunglück der Welt; 36 Jahre später ist das Gebiet in weitem Umkreis noch immer radioaktiv verseucht.
Auch wenn die Beweggründe des russischen Präsidenten Wladimir Putin* zum aktuellen Zeitpunkt nicht bekannt sind, gibt es mehrere Erklärungsversuche. Das erklärte Ziel von Putins Angriffen ist die Hauptstadt Kiew. Tschernobyl könnte als Zwischenziel dienen, denn es liegt nahe der Grenze zu Belarus, von wo aus die russischen Truppen ihren Angriff gestartet hatten. „Es ist der kürzeste Weg von A nach B“, sagt auch James Acton von der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden der Tagesschau. Die Einnahme Tschernobyls sei für sich genommen militärisch nicht entscheidend, aber sie erleichtere den Marsch russischer Truppen auf Kiew, sagte auch Jack Keane, ehemaliger General der US-Armee der Tagesschau.
Möglich wäre laut Beobachtern auch, dass Putin mit der Eroberung eine Drohung an den Westen senden will. Die Vereinigten Staaten äußerten sich besorgt. Die Einnahme der Sperrzone des früheren Meilers und der Mitarbeiter dort sei eine „Geiselnahme“, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Donnerstag in Washington. „Diese unrechtmäßige und gefährliche Geiselnahme, die routinemäßige Arbeiten zum Erhalt und zur Sicherheit der Atommüll-Einrichtungen aussetzen könnte, ist unglaublich alarmierend und sehr besorgniserregend“, so Psaki.
Krieg in der Ukraine: Strahlenbelastung um Tschernobyl steigt
Nach der Einnahme von Tschernobyl soll die Strahlenbelastung am Standort des stillgelegten Atomkraftwerks steigen. „Die Strahlung beginnt zu steigen. Sie ist für Kiew vorerst nicht kritisch, aber wir beobachten sie“, teilte das ukrainische Innenministerium am Freitag mit, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. Die Strahlungswerte um die ukrainische Atomruine Tschernobyl sind auch nach Einschätzung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nicht gefährlich.
Fachleute der staatlichen Atombehörde machten am Freitag keine genauen Angaben zu den Strahlungswerten, erklärten aber, die Veränderung sei auf die Bewegung von schwerem militärischem Gerät in dem Gebiet zurückzuführen, das radioaktiven Staub in die Luft bläst. Die US-Nachrichtenagentur AP berichtet, dass der russische Beschuss laut Angaben eines Beamten ein Lager für radioaktive Abfälle getroffen habe. Ein Angriff auf das Lager für Abfälle könnte radioaktive Partikel auch über die Gebiete der Europäischen Union befördern, warnte ein Berater des Innenministeriums in ukrainischen Medien. (sne mit AFP/dpa) *fr.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.