Kinder als Gewaltverbrecher

Zwei Jungen aus Salzgitter haben ihre 15-jährige Mitschülerin getötet - Warum?
Salzgitter -Nach dem gewaltsamen Tod einer 15-Jährigen herrschen in Salzgitter Fassungslosigkeit, Trauer und Wut. Am Rand der verwilderten Grünfläche, wo am Dienstag das tote Mädchen entdeckt wurde, legen Menschen Blumen ab. Die Schülerin Anastasia soll von zwei 13 und 14 Jahre alten Jungen aus niedrigen Beweggründen erstickt worden sein. Bekannt ist, dass alle auf die gleiche Schule gingen. Die Ermittler halten sich noch sehr bedeckt. Versuch einer Einordnung.
Wie häufig werden Jugendliche zu Gewalttätern?
Das Bundeskriminalamt hat im vergangenen Jahr 2595 Fälle in Deutschland registriert, bei denen es um Mord, Totschlag oder Tötung auf Verlangen ging. 19 Tatverdächtige waren unter 14, im Jahr zuvor waren es 11. Bei den 14- bis unter 16-Jährigen gab es 58 Tatverdächtige, im Vorjahr 35. Betrachtet man allein die Mordverdächtigen, waren es 2021 sieben Kinder unter 14 Jahren, einschließlich versuchter Tötungen.
Sind das auch Auswirkungen der Pandemie?
Insgesamt ist die Gewaltkriminalität unter jungen Menschen seit 2010 laut einer Auswertung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) rückläufig, auch wenn es 2018 und 2019 einen leichten Anstieg gab. "Die Pandemie scheint den rückläufigen Trend der Jugendgewalt nicht aufzuhalten", sagt der Kriminologe Klaus Boers von der Universität Münster.
Dennoch kommt es immer wieder zu Einzeltaten. Was weiß man über die Täter?
Der Marburger Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt analysiert in dem Buch "Wenn junge Menschen töten" (C.H.Beck, 2019) anonymisiert Fälle aus den vergangenen Jahrzehnten. Niemand wird allein wegen einer schweren Kindheit zum Mörder oder Totschläger. Es kommen weitereFaktoren hinzu wie eigene Gewalterlebnisse, Alkohol- und Drogenkonsum oder eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, die sich etwa im Quälen von Tieren äußern kann. Auch Gruppendynamik könne eine Rolle spielen.
Warum werden vor allem Jungen zu Gewalttätern?
Jungen haben ein höheres Aggressionspotenzial. Das hat genetische, aber auch Erziehungsgründe. Jungen identifizieren sich auch eher mit Gewalttätern in Filmen oder Videospielen, heißt es in "Wenn junge Menschen töten".
Was sagen Experten zum Ruf nach einem schärferen Jugendstrafrecht?
Deutschland habe jahrzehntelang gute Erfahrungen mit dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht gemacht, sagt Jurist Boers. Bei Alltagskriminalität wie Ladendiebstahl sei man zurückhaltend und stelle viele Verfahren ein. Die Kriminalitäts- und Gefangenenraten von Jugendlichen in Deutschland sind im internationalen Vergleich gering - auch dank der guten Erziehungs- und Präventionsarbeit, etwa mit Straßensozialarbeit in Brennpunktvierteln.
Gab es solche Präventionsprogramme auch in Salzgitter-Fredenberg
Ja. In dem oft als schwierig beschriebenen Ortsteil ist die Betroffenheit unter den Sozialarbeitern groß. "Es herrscht Fassungslosigkeit", sagt Ulrich Hagedorn, Geschäftsführer der örtlichen Arbeiterwohlfahrt. "Wir betonen aber auch, dass es sich um eine absolute Ausnahmesituation handelt und ähnliche Dinge eben nicht regelmäßig passieren."
Was passiert jetzt mit den Verdächtigen im Fall der getöteten Anastasia?
Der 13-Jährige ist nicht strafmündig. Das Jugendamt will die Unterbringung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie erreichen, die vom Familiengericht angeordnet werden muss. Ein Psychiater hat den Jungen bereits begutachtet. Auch der strafmündige 14-Jährige wird von einem Psychiater begutachtet. "Ich gehe davon aus, dass wir es hier bei beiden mit einem erheblichen Behandlungsbedarf zu tun haben", sagt der Kriminologe Boers. Offenkundig habe die Impulskontrolle völlig gefehlt. Das Jugendrecht sieht bei Strafmündigen über 14-Jährigen eine maximale Haftstrafe von zehn Jahren vor. dpa