Woyzeck und die Psyche
Vor fast genau 200 Jahren hat Johann Christian Woyzeck die Witwe Johanna Woost in Leipzig erstochen. Es folgt ein spektakulärer Gerichtsfall und am Ende die öffentliche Hinrichtung vor einer unzähligen Menschenmenge.
Der Fall veranlasst Georg Büchner zu seinem berühmten Dramenfragment »Woyzeck« (1879), später nehmen sich Künstler wie der Komponist Alban Berg oder Regisseur Werner Herzog des Stoffes an. Nun taucht der Schwede Steve Sem-Sandberg in seinem neuen Roman »W.« tief in die Akten um den historischen Mörder ein.
Auf mehr als 400 Seiten stellt der 62-jährige Autor, der Mitglied im Literaturnobelpreis-Komitee ist, vor allem das psychologische Mysterium rund um den historischen Fall in den Mittelpunkt.
Wie ist die Tat einzuordnen, die Woyzeck aus Eifersucht, aus sozialem Elend, Halluzinationen und auch aus offensichtlichem Wahnsinn heraus begeht?
Anhand von Gerichtsdokumenten und weiteren Materialien baut Sem-Sandberg einen beeindruckenden Roman zwischen Fiktion und Investigation. Dabei nutzt er (und bravourös auch die deutsche Übersetzung von Gisela Kosubek) die historische Sprache, ohne manieriert zu wirken. Der schwedische Autor nähert sich der Psyche des Mörders bis ins letzte Detail - ohne jedoch die Tat Woyzecks auf irgendeine Weise zu entschuldigen.
Bewältigung der Vergangenheit
Eine Polizistin, deren persönliches Schicksal sie in ihrem Beruf antreibt, steht im Mittelpunkt des Romans »Nacht ohne Sterne« der Amerikanerin Paula McLain. Anna Hart ist als kleines Mädchen von ihren Eltern verlassen worden und erlebte eine Odyssee durch Heime und Pflegefamilien. Diese Vergangenheit bewältigt sie als Polizistin, die sich auf die Suche nach verschwundenen Kindern spezialisiert hat. Als sie in die Kleinstadt zurückkehrt, in der sie einen Teil ihrer Kindheit verbrachte, beteiligt sie sich an der Suche nach einem 15-Jährigen, dessen Jugend sie an ihre eigene erinnert.
Paula McLain zeichnet in ihrem ersten Thriller ein packendes Psychogramm einer Ermittlerin in einer Ausnahmesituation, die in immer neuen Wendungen menschliche Extreme erreicht. »Nacht ohne Sterne« bietet packende, wenn auch bisweilen verstörende Lektüre. dpa
Steve Sem-Sandberg: W. Klett-Cotta, 416 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-608-98119-3
Paula McLain: Nacht ohne Sterne. Rütten & Loening, 439 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-352-00958-7