Wissen und Werte

Autor und Hirnforscher Philipp Sterzer will eine Polarisierung in der Gesellschaft vermeiden. Er empfiehlt: Politik sollte Fakten und Werte in ein vernünftiges Verhältnis zueinander setzen.
Was ist Ihr Kernanliegen?
Es ist eine gefährliche Illusion, anzunehmen, unsere Überzeugungen seien die einzig richtigen und rationalen. Das führt automatisch dazu, dass wir die Menschen einteilen, in Vernünftige, Normale, Gesunde einerseits und Verrückte auf der anderen Seite, wie zum Beispiel Donald Trump. Bei ihm wurde ja darüber spekuliert, ob er eine psychische Störung hat. Die hat er sicher nicht im Sinne einer Erkrankung. Ich will dieser Kategorisierung, die uns in Probleme bringt, etwas entgegensetzen. Und zwar die Einsicht, dass wir alle dazu neigen, in irgendeiner Art und Weise irrational zu sein. Und dass wir aufpassen müssen, nicht andere abzustempeln, weil sie ein anderes Bild der Welt haben.
Dennoch schreiben Sie ja in Ihrem Buch, dass wir nicht umhin können, im Alltag und in der Politik zu unterscheiden zwischen eher rational und eher irrational. Wo verläuft die Grenze?
Es ist sicher kaum möglich, eine klare Grenze zu ziehen. Aber auf die Politik bezogen ist es mir ganz wichtig, zu unterscheiden zwischen normativen Aussagen, also letztlich Wertungen, und sogenannten deskriptiven Aussagen über die Wirklichkeit. Nur bei Letzteren geht es um Wissensfragen, um wahr oder unwahr. Die Politik kreist letztlich um die Frage, was finden wir richtig, welche Konsequenzen ziehen wir aus dem, was wir wissen, um dann Entscheidungen zu treffen. Bei Trump und Putin hingegen geht es nicht um Fakten, sondern rein um wertendes bis polemisches Argumentieren. Am Ende des anderen Spektrums steht vielleicht jemand wie der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der eine wissensbasierte Politik machen will.
Aber ist es gerade bei Lauterbach nicht so, dass das Pendel der Vernunft wieder in unvernünftige Wertung zurückschlägt? Oder anders gefragt, ist es überhaupt sinnvoll, hundertprozentig vernünftige Politik machen zu wollen? Lauterbach hat unlängst selbst eingeräumt, dass er sich im Nachhinein freut, von anderen Politikern und Experten in seiner Corona-Politik gebremst worden zu sein…
Man muss da unterscheiden: Im System Wissenschaft ist das leitende Prinzip Rationalität. Es ist der Versuch, sich der Wahrheit, so es sie gibt, anzunähern. In der Politik geht es darum, auf der Basis dessen, was wir wissen, rationale Entscheidungen zu treffen. Aber Politiker müssen sich bewusst sein, dass Politik nicht nur wissensbasiert sein kann. Da geht es auch darum, dass wir uns Gedanken darüber machen, warum wir etwas wichtig finden, welche Werte wir vertreten. Man kann zum Beispiel in der Corona-Politik bei der Debatte »Individualismus versus Gemeinsinn« nicht mit Wissen argumentieren.
Wie soll die Politik dann mit solchen Widersprüchen umgehen?
Die Aufgabe von Politikern ist es, diese beiden Ebenen, also Wissen und Werte in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen und auf Faktenbasis rational zu agieren.
Haben Sie Ideen, wie man zum Beispiel mit Querdenkern, die sich dem vernünftigen Diskurs zum Teil verweigern, gewinnbringender diskutieren kann?
Ich habe da kein Patentrezept. Aber es ist nicht aussichtslos mit Daten und Fakten zu argumentieren. Falsche Überzeugungen kann man durchaus ändern, aber es braucht Zeit, braucht Wiederholung. Man muss einen Gesprächsraum öffnen, sich auf Augenhöhe begegnen, also nicht belehrend auftreten. Ein gutes Beispiel für eine solche Gesprächsführung ist Robert Habeck, der ja auch dafür gelobt wurde, seine Zweifel und Abwägungen offenzulegen.
Er wurde viel dafür gelobt, dann kamen aber nach einigen Korrekturen doch Zweifel auf, ob man sich von einem Politiker, der sich als Lernender versteht, gut regiert fühlen kann… Wünscht man sich als Bürger also nicht letztlich doch mehr Klarheit?
Ja, entschlossenes Handeln und Entscheiden ist schon wichtig. Zaudern und Zögern kann in schwierigen Zeiten zu noch mehr Unsicherheit führen. Aber so zu tun, als wäre alles klar, ist eine andere Sache. Es wäre mein Wunsch an die Politik und auch an die Medien: Lasst uns aufhören, so zu tun, als gäbe es immer eindeutige, klare Fakten und daraus resultierend eindeutige, klare Entscheidungen.
Sie schreiben in Ihrem Buch etwas provokant, dass wir uns die Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen, nicht nach unseren Überzeugungen aussuchen, sondern unsere Überzeugungen nach der Gruppe richten.
Die These ist vielleicht etwas überspitzt formuliert. Aber ich wollte zeigen, dass wir der Illusion unterliegen, dass wir uns die Gruppe ausschließlich nach unseren Überzeugungen aussuchen. Das stimmt nämlich so nicht. Wir beharren selbst dann, wenn wir neue Fakten anders bewerten, lange auf unseren Überzeugungen, weil wir auch die Kosten des Herausfallens aus der Gruppe scheuen, die diese Überzeugungen vertritt. Das ist etwas, was evolutionär in uns verankert ist: Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist für uns wichtiger als eine bestimmte inhaltliche Festlegung.
Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft, Ullstein Verlag 320 Seiten, 23,90 Euro, ISBN 9783550201325
