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Welche Welt sieht dieser Mann?

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Meister der Legendenbildung: Der russische Präsident Wladimir Putin im Kreml. FOTO: DPA © DPA Deutsche Presseagentur

Russland muss wiedergeboren werden. Vielleicht kann man diese Idee als zentralen Gedanken im Kopf jenes Mannes verorten, der derzeit die Weltordnung ins Wanken bringt. Der die Gefahr eines Atomkriegs heraufbeschwört und in der Ukraine ein Leid anrichtet, das dem im Syrien Baschar al-Assads, mit dem er sich 2015 verbündete, nicht nachsteht.

Russland muss wiedergeboren werden: Ein Satz, der harmlos klingt, solange es einzig darum geht, die bestehende nationale Identität zu festigen. Ein Satz aber auch, der explosive Kräfte entfalten kann, wenn man unter Russland ein russisches Großreich versteht, zu dem abtrünnige Staaten und ehemalige Landesteile wie zum Beispiel die Ukraine, die Krim und Georgien wie selbstverständlich hinzugehören. Und ein Satz, der noch viel mehr Sprengstoff birgt, wenn zur russischen Identität etwa gehören soll, die Dominanz eines russischen Andersseins weltpolitisch gegen Feinde zu festigen.

Nie Kommunist

Michel Eltchaninoff, 1969 in Paris geboren, ist Chefredakteur des französischen »Philosophie Magazine« und hat mit »In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten« ein Werk vorgelegt, das die Wurzeln und Einflüsse von Putins Denken auf ungewöhnlich umfassende Weise offenlegt. Einflüsse von Dichtern und Philosophen hat er seiner Studie nämlich ebenso zugrunde gelegt wie Artikel, Reden und Aufsätze von Putin selbst. So entsteht ein plastisches Bild der Welt, wie Putin sie sieht - eine sehr zweifelhafte natürlich, deren skrupellose machtpolitische Umsetzung derzeit die Welt entsetzt. Und doch eine zumindest in sich schlüssige, die zeigt, dass man diesem Mann mit hilflosen Ausrufen wie »Ist der vielleicht verrückt geworden?« nicht gerecht wird. Vielleicht macht gerade das Putin so gefährlich.

Sein schon vor sieben Jahren erschienenes Buch hat Eltchaninoff um ein umfassendes Kapitel zur neuen Weltlage erweitert. Auch die bisherigen Kapitel hat er mit Blick auf den Krieg in der Ukraine durchgängig revidiert. Wem es darum geht, Putins Denken zu begreifen, der findet hier aufschlussreiche Hilfestellung.

Nie, sagt Eltchaninoff, sei Putin Kommunist gewesen. Marx habe er stets nur ironisch zitiert. Schon zu Beginn seiner politischen Karriere als Spion beim KGB/FSB (Föderaler Sicherheitsdienst) ging es ihm nicht um die Umsetzung einer politischen Doktrin, die er als überlebt ansah, sondern vielmehr darum, seinem Volk und der Nation (im russischen Wort »narod« ist beides identisch) als »Patriot« zu dienen. Als er, längst Präsident, den »Zusammenbruch der UdSSR die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts« nannte und daraufhin bezichtigt wurde, einem der brutalsten Systeme nachzutrauern, konterte er, indem er sein großes Herz für die zu Unrecht Ausgestoßenen dieser Welt artikulierte: »Was bedeutet der Zusammenbruch der Sowjetunion?«, fragte er, und antwortete sich selbst: »25 Millionen Sowjetbürger, ethnische Russen, fanden sich außerhalb der Grenzen des neuen Russlands wieder. Keiner verschwendete einen Gedanken an sie. … In welcher Situation fanden sie sich wieder? In der von Ausländern … auf der anderen Seite der Grenze, mittellos, ohne nach Russland, in ihre historische Heimat, zurückzukönnen.« Dieser »humanitäre Aspekt« sei »eine Tragödie«. So Putin 2007 in einem Interview mit dem »Time-Magazine«.

In dieser Zeit finden sich auch die Wurzeln für seinen seit etwa 2014 wie ein Mantra wiederholten Vorwurf, die jetzige Regierung in Kiew sei eine »faschistische Junta«. Auch Putin negiert nicht, dass Stalin ein Diktator war. Aber, wendet er ein: Stalin habe auch Hitler besiegt und den Sieg im Zweiten Weltkrieg überhaupt erst möglich gemacht: »Und diesen Umstand zu ignorieren, wäre dumm.« Wer sich also von Russland ab- und dem Westen zuwendet, begeht Verrat auch an diesem Sieg über die Nazis. Es geht Eltchaninoff nicht darum, Putin zu brüskieren oder sein Denken als naiv zu entlarven. Vielmehr will er aufzeigen, wie aus einer autoritären ideologischen Gegenposition zum Westen das Wunschbild einer Welt entstehen kann, in der nur ein starkes geeintes Russland den nötigen Gegenpol bilden und eine natürliche Heimat für viele Millionen Menschen sein kann. Zu den Philosophen, die ihm helfen, diese Weltsicht zu untermauern, gehören in Teilen Nikolai Berdjajew und Wladmir Solowjow, vor allem aber Iwan Iljin (1883 - 1954). Deren Werke schenkte Putin den obersten Kadern der Partei Einiges Russland Anfang 2014: Und alle mussten sie fortan lesen.

Gewalt rechtfertigt

Mit dem Hegel-Spezialisten Iljin gelang es ihm, Gewalt zu rechtfertigen, sofern sie denn im Namen des Guten entstand. Auch entwickelt er eine Theorie der Macht, die dem »Aufstieg der Besten« mit Gespür für die russische Nation den Weg ebnet. Wie sich dieses Denken mit einer Gegnerschaft gegenüber allem Westlichen vereint und darüber immer konservativer wird, zeichnet Eltchaninoff faszinierend nach. Bemerkenswert auch, wie geschickt sich der ehemalige KGB-Spion, der sich viel auf sein Einfühlungsvermögen zugutehält, ganz unterschiedlich äußerte - lupenrein demokratisch oder auch nicht -, je nachdem, ob er mit chinesischen oder europäischen Politikern sprach.

All dies mündet dann, in sich durchaus folgerichtig, in einer »Eskalation zum Äußersten« - so der Titel des zehnten, letzten und jüngsten Kapitels: Immer mehr wird die Vergangenheit »mythifiziert« im Sinne einer Legendenbildung, die jeden Eroberungskrieg rechtfertigt. Sodass das Fazit wohl lauten muss: Nein, Putin ist nicht verrückt geworden. Er ist nur - erschreckend konsequent. Dierk Wolters

Michel Etchaninoff: In Putins Kopf. Tropen Verlag, 222 Seiten, 12 Euro, ISBN: 978-3-608-50182-7

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