Was wir vom Affen lernen können

»Der Unterschied« ist ein Buch, das die rote Linie verblassen lässt. Wo Fachleute aus Soziologie und Philosophie die Linie zwischen Menschen und Primaten weitgehend für undurchlässig erklären, klärt Frans de Waal auf heitere und unterhaltsame Weise über die unglaubliche Verwandtschaft der Bonobos und Schimpansen mit uns Menschen auf. So erinnert er auch an das »überwältigende weibliche Engagement für Schutzeinrichtungen«, es »spiegelt die Beschützerrolle, die wir bereits bei der amerikanischen Ökopionierin Rachel Carson beobachten konnten und die sich bei den Umwelt-Kämpferinnen der Gegenwart, von Jane Goodall bis Greta Thunberg, wiederfindet«.
Frans de Waal verrät Ihnen, was Sie schon immer über Sex wissen wollten. Eine Fülle von Details dürfen Sie erwarten, allerdings nur aus dem Liebesleben der Primaten. Dass allein der Mensch »zweckbefreite Erotik« kenne, wird nach der Lektüre des Buches niemand mehr glauben.
Vielleicht fragen wir uns dann auch, ob »wir uns beim Thema Genitalien wirklich noch immer wie eine viktorianische alte Jungfer aufführen (müssen)?« Zwar ist der Homo sapiens stolz darauf, »das größte Hirn unter allen Primaten zu besitzen …, sucht aber die Tatsache zu verheimlichen, dass er auch den größten Penis hat.« Dass wir Menschen Genitalien »unwiderstehlich« finden, steht im krassen Widerspruch zur Peinlichkeit, mit der wir über sie schweigen.
Moral bei nichtmenschlichen Primaten hört auf, wo bei Menschen die Doppelmoral beginnt. Und so beobachtete Frans de Waal, was andere Forschende auch sahen, aber aus ihren Protokollen gestrichen hatten: »Weibliche Bonobos gehen ihrem Liebesleben so aktiv und leidenschaftlich nach, dass man fast von Nötigung sprechen könnte. Sie sind die hemmungslosesten Primaten, die ich kenne. Bislang ist bei dieser Spezies noch kein männlicher Infantizid, also die absichtliche Verursachung des Todes eines Nachkommen, beobachtet worden. Die Bonobogesellschaft mit ihrer reichen Sexualität und dem schwesterlichen Zusammenhalt scheint mir die effektivste weibliche Strategie gegen den von Männern verübten Infantizid zu verfolgen.«
Konstrukt oder Naturgegeben?
Leser und Leserinnen werden nicht selten das Gefühl bekommen, dass die komplette Sexualmoral der Menschen unnatürlich sei. Aus dem Vergleich, wie Primaten gendern und wie es Menschen tun, folgen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. De Waal ist nicht ganz einverstanden mit Judith Butlers Überzeugung, dass Geschlechtsunterschiede im Wesentlichen sozial bestimmt werden. Es ist für den Verhaltensforscher nicht hinnehmbar, dass »männlich« und »weiblich« reine Konstrukte seien. Während manche auf der Linie Butlers ihre These zur postmodernen Konstruktion steigerten und die beobachtbare Realität bezweifelten, fordert de Waal sie auf, zur Räson zu kommen. Wissenschaft beruhe schließlich auf Beobachtungen, die man nicht wegreden könne. Wissenschaft sei oft mühsame Feldforschung, keineswegs eine Laune von Biologen.
Während man das Buch kaum noch weglegen möchte, weil sein Autor so wunderbare Erlebnisse mit Primaten bespricht, stellt sich die Frage, warum er seine Forschungsprämisse nur unvollständig auf den Menschen selbst anwendet. Statt sich in der Frage, ob Unterschiede zwischen Weibchen und Männchen bei Menschen und Tieren biologisch oder sozial determiniert seien, meistens auf die Seite der Biologie zu schlagen und die andere Perspektive abzuwehren, vermissen die Leser hier manchmal die Perspektive des Beobachtens. Bei der Beobachtung von Menschen sind der Biologe, der Soziologe und die Philosophin nämlich stets Beobachter und Beobachtetes zugleich. Das macht auch den Unterschied. Frans de Waals genaue Beobachtungen und biologische Studien an Primaten (und Philosophen) versteht er glänzend und kurzweilig zu präsentieren. Sie haben immer schon der Verliebtheit von Philosophien in die Großartigkeit ihres Verstandes mit schweren Gewichten eine Bodenhaftung ermöglicht. »Der Unterschied« macht da keinen Unterschied: Er macht den Weg frei zwischen der menschlichen Moral und dem Tierverhalten, der vielen in der Geisteswissenschaft für unbeschreitbar erscheint.
Den Affen näher als den Menschen
Während sich die Soziologen - was sogar manche Forschende der Philosophie anerkennen - dabei verstärkt auf die Eigendynamik sozialer Strukturen konzentrieren, entzieht sich ihnen aber der Blick auf das Sozialverhalten der Biologen wie Frans de Waal. Offensichtlich stehen ihm Affen zumeist näher als Menschen, und es muss ihm menschenverachtend erscheinen, wenn sie vom moralisierten Bewusstsein als Affen abgewertet werden. Dass die Ignoranz in der Verhaltensforschung gegenüber der roten Linie der Geisteswissenschaft ebenfalls sozial bedingt sein könnte, bleibt unbeobachtet.
Und in der Anwendung eigener Prämissen auf diejenigen, die diese Prämissen nicht teilen, kann Frans de Waal ebenso dazulernen wie seine Verächter unter den Soziologen. Aber diese Gemeinsamkeit macht das Buch über den Unterschied noch interessanter.
Allein die spielerisch erlernte Verhaltensforschung vor allem an Schimpansen und Bonobos - und auch hier kommt vieles auf den Unterschied an - macht deutlich, dass sie sind wie wir. Klaus-Jürgen Grün
Frans de Waal: Der Unterschied. Was wir von Primaten über Gender lernen können. Verlag Klett-Cotta, 480 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-60898-639-6