Trübsal und Jauchzen

Nach 12 Jahren bringt der frühere Blumfeld-Sänger Jochen Distelmeyer ein neues Album heraus
Berlin -Als Jochen Distelmeyer Ende April nach vielen Jahren wieder einen neuen Song veröffentlicht, kommt das Lob von quasi einem der seinerzeit größten Influencer in Deutschland. "Gefällt auch der Coolnesspolizei!", twittert der Berliner Virologe Christian Drosten über die fabelhafte Vorab-Single "Ich sing für dich". Eine Hörempfehlung an rund eine Million Follower sozusagen.
"Nein. Ich glaube, ich bin nicht cool", sagt Distelmeyer. Als einer der Väter der "Hamburger Schule" steht er seit Jahrzehnten für intellektuellen Deutsch-Pop zwischen Gesellschaftskritik und Gefühlsoffenbarung. Und eigentlich ist er auch weiterhin der Alleinerbe der Band Blumfeld, deren Gesicht er als Frontmann bis zur Auflösung 2007 war.
Mehr als zwölf Jahre sind seit seinem Solo-Debüt "Heavy" vergangen. Mit "Gefühlte Wahrheiten" erscheint heute ein neues Album in einer Zeit, die von Ungewissheiten und Skepsis geprägt ist. Wenn man Textzeilen wie "Rings um dich nur Krieg und Krise tobt" (aus "Ich sing für dich") hört, kann man kaum glauben, dass die zwölf Songs schon vor der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg entstanden.
Das Album beginnt mit pluckerndem Mantra-Soul in "Komm (So nah wie du kannst)", das zunächst etwas in die Irre führt: Denn so drumlastig und elektronisch wird das Album nur selten. Abgesehen vielleicht noch vom lieblich-sanften Flirt-Track "Tanz mir mir", dessen hinreißender Spät-80er-Sound über siebeneinhalb Minuten einen fiebrigen prä-orgiastischen Schwebezustand durchhält.
Im sensationellen "Nur der Mond" packt Distelmeyer alle Sehnsucht in ein zunächst sparsam instrumentiertes, dann anschwellendes Blues-Kleinod. Und wenn der Musiker dann mit dem Gegenstück "Manchmal" das Verlorene besingt ("Wenn ich nicht weiter weiß, und der Hunger mein Herz zerreißt"), wird klar: Der Wahl-Berliner breitet alle Empfindungen bis in die Extreme aus: Triumph der Liebe und Kummer des Verlusts, Jauchzen und Trübsal.
In der Mitte des Albums gibt es drei Tracks, die alte Blumfeld-Fans sicherlich staunen lassen werden. Mit "Gone Girl", "The Reason" und "Roads Of Regret" veröffentlicht der Sänger erstmals eigene englischsprachige Country-Songs. Eigentlich wollte er eine Art Country-Mixtape aufnehmen. Doch dazu kam es nicht.
"Beim Mischen haben wir gemerkt, dass die Stücke sehr gut zu den anderen passen, sowohl musikalisch als auch inhaltlich, auch wenn es eine andere Sprache ist", so der Musiker. "Der Vibe, das Grundgefühl und der Flow sind sehr verwandt und gehören dazu."
Der Sound ist so klassisch und warm, dass man etwa in "The Reason" bei der Zeile, die mit "You can kill a man..." beginnt, in Gedanken an Johnny Cash fast vervollständigen möchte: "... in Reno". Der Südstaaten-Blues im Elfeinhalb-Minuten-Brett "Nicht einsam genug" steht Distelmeyer, der im Juli 55 wird, besonders gut.