Toxische Freundschaft

Eigentlich ist es nur eine kleine Geschichte. Und doch erzählt sie die ganz große Geschichte: die, von den Dingen, die wichtig sind im Leben. Von denen, die man bisher zu wenig beachtet hat. Und von denen, die man niemandem mehr weitererzählen kann. Es ist die Neuentdeckung eines 80 Jahre alten Romans, der heute genauso aktuell ist wie damals.
Ob die 13 eine Unglückszahl ist, ist eine Frage des (Aber-)Glaubens. Henry Preston Standish jedenfalls hat sie kein Glück gebracht, findet er sich doch zu Anbruch des 13. Tages seiner Schiffsreise plötzlich im Wasser wieder. Man kann es Glück im Unglück nennen, dass er nicht in die Schiffsschraube geraten ist, dass es keinen großen Wellengang gibt und dass das Wasser warm ist. Und dennoch: Rettung ist nicht in Sicht. Ähnlich hoffnungslos, wenn auch nicht in existenzieller Hinsicht, ist das Schicksal der Protagonistin im Buchtipp unten auf der Seite. Zwei Sachbücher und der Kinderbuchtipp ergänzen unsere Lesetipps für dieses Wochenende. kan
Mit 16 Jahren hält Cecilia das Mobbing an ihrer alten Schule nicht mehr aus und wagt mit einem Schulwechsel einen Neuanfang. Tatsächlich scheint das genau die richtige Entscheidung zu sein: Ihre neue Klasse nimmt sie herzlich auf. Ausgerechnet die coole Hel hat von Anfang an einen besonders guten Draht zu ihr und verpasst ihr mit »Cilia« auch gleich einen tollen Spitznamen. Zum ersten Mal eine echte beste Freundin zu haben, ist für Cilia so überwältigend, dass sie den ein oder anderen bitteren Beigeschmack bereitwillig ignoriert. Dass es etwa immer Hel ist, die vorgibt, was in und cool ist, die alle Entscheidungen trifft und Cilia auch geschickt von zu engen Kontakten zu anderen fernhält.
Wie seltsam das ist, fällt Cilia erst beim gemeinsamen Sprachferiencamp in England richtig auf. Anderen gegenüber äußert sich Hel immer wieder herablassend über sie, macht sie mit kleinen Sticheleien lächerlich und vereinnahmt ihre Zimmergenossin Nova völlig für sich. Als sich nach und nach immer mehr Kids von Cecilia abwenden, ist klar, dass hier irgendetwas ganz falsch läuft. Aber kann wirklich Hel dahinterstecken?
Inés María Jiménez schreibt mit »Ein bisschen Konfetti macht noch keine Freundin« einen anfangs rosaroten, aber allmählich immer düsterer werdenden Roman über eine toxische Mädchenfreundschaft mit verstörenden Ausmaßen. Gebannt rutschen wir an Cilias Seite in diese beklemmende Geschichte hinein und können uns ebenso wenig davon lösen, wie Cilia von Hel. Doch sie ist nicht Hels einziges Opfer, und als sie das endlich erkennt, weiß sie, was sie tun muss. Packender Lesestoff von Anfang an - mit einer wichtigen Botschaft, findet heute eure Maren
Inés María Jiménez: Ein bisschen Konfetti macht noch keine Freundin. Grevenbroich: Südpol, 2022. 200 Seiten. 15 Euro. Ab 12 Jahre.
Britta Boerdner führt uns tief und in einer beeindruckend eindringlichen Sprache in die Lebens- und Gefühlswelt ihrer Ich-Erzählerin. Diese ist Mitte 40, arbeitet im Management eines Finanzdienstleistungsunternehmens, in einem Hochhaus einer Großstadt. Ihr Leben hat sie einzig auf die Arbeit ausgerichtet. Sie ist extrem leistungsorientiert und erfolgreich mit dem unbestimmten Ziel, irgendwann, irgendwo am Ende ihrer Karriereleiter an- und zur Ruhe zu kommen.
Affäre als Platzhalter
Jetzt ist es noch nicht so weit. Nach Jahren hoher Anspannung, um in der harten Businesswelt zu bestehen, ist die Protagonistin erschöpft, leer, unruhig und kann nicht mehr schlafen. Die Arbeitstage empfindet sie als Krieg, in dem sie täglich erneut den Kampf verlieren könnte. Sie ist einsam, ohne Beziehung, ohne Kontakt zur Herkunftsfamilie, ohne Freunde.
Elena fängt ein Verhältnis mit einem 15 Jahre jüngeren Consultant an. Sie ist seine Vorgesetzte. Die Geschichte wird in Rückblicken erzählt. Zwar fühlt sie sich in der Beziehung mit ihm wieder lebendig, auch dient ihr die Affäre als Rettungsanker, sie kann wieder schlafen. Gleichzeitig aber hält sie ihn auf Distanz. Nichts und niemand darf ihre Karriere stören.
Sie lässt nicht nur keine Nähe zu, sondern sie vermeidet auch, Persönliches von ihm zu erfahren, ihn kennenzulernen. Er bleibt im Buch auch für die Leser und Leserinnen nur ein Kürzel: »M.«, jung, sportlich, gut aussehend, erfolgreich, leer, austauschbar, ein Platzhalter für unzählige junge Männer in der Finanzwelt.
Die Affäre endet tragisch, die Ich-Erzählerin verliert ihre Arbeit. Sie übersteht ihren Absturz durch einen Umzug in ein unpersönliches neues Viertel der Großstadt. Wieder ein Rettungsanker. Hier ist sie ein unbeschriebenes Blatt, das Quartier ist ein neutraler Ort, sie will bleiben, bis alles wieder gut ist. Sieben Monate später erhält sie eine Voicemail von Jana, der Freundin ihrer Affäre. Sie ist der Auslöser für die Protagonistin, sich über M., ihre Beziehung zu ihm und mit ihrem Leben auseinanderzusetzen. Eine tiefgreifende Analyse gelingt Elena auch am Ende des Buches nicht.
Boerdners Roman begeistert durch seine klaren Beobachtungen und eine starke Sprache, die die Gefühlswelt, Distanziertheit, das Unglück und die Einsamkeit der Hauptfigur fühlbar machen, und deren negativem Sog man sich kaum entziehen kann. Ute Weigand
Britta Boerdner: Es geht um eine Frau, Frankfurter Verlagsanstalt, 254 Seiten, 24 Euro, ISBN 9783627002992
Mit den üblichen historischen Schulatlanten hat »Die Geschichte der Welt« von Christian Grataloup wenig zu tun. Dazu ist der Atlas mit seinen über 600 Seiten zu monumental und auch zu vielschichtig. Vielmehr lädt er zum Stöbern und Schmökern ein, zu einer langen Reise durch die Menschheitsgeschichte, der Kontinente und Staaten. Auf 515 Karten und in 13 Kapiteln wird der Bogen geschlagen von der Entwicklung der Hominiden vor sieben Millionen Jahren bis zur Gegenwart.
Die farblich hervorragend gestalteten Karten werden ergänzt von Info-Texten. Bei den Karten wird man bisweilen mit ungewöhnlichen Perspektiven konfrontiert. Grataloup überrascht auch mit besonderen Themen, etwa einer Karte zur Geschichte der Mauern ab 1900 oder der Tiefseekabel im 21. Jahrhundert. dpa
Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt. Ein Atlas, C.H. Beck, München, 640 Seiten, 39,95 Euro, ISBN 978-3-406-77 345 -7
Was macht ein Land eigentlich reif für einen Bürgerkrieg? Die amerikanische Wissenschaftlerin Barbara Walter ist für dieses Thema eine gefragte Expertin. In ihrem Buch »Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen« fasst sie die Ergebnisse ihrer Studien in kompakter und verständlicher Form zusammen.
Eines der vielleicht überraschendsten Ergebnisse: Nicht die ärmsten Länder, diejenigen mit den größten ethnischen Spannungen oder der krassesten Ungleichheit sind stark gefährdet, sondern Staaten, die sich in einer Art Schwebezustand befinden zwischen Autokratie und Demokratie. Walter streift in ihrem Buch den Irak und Syrien, Ungarn und die Türkei. Ihre eigentliche Sorge aber gilt den USA. Ihr Buch erscheint wie eine Warnung vor einem Albtraumszenario. dpa
Barbara F. Walter: Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen, Hoffmann und Campe, Hamburg, 320 Seiten, 26 Euro, ISBN 978-3-455-01 510 -2
Ein falscher Schritt und schon gerät das ganze Leben aus den Fugen. Nichts ist mehr, wie es war, alle Selbstverständlichkeiten sind mit einem Mal einfach weggewischt. So geht es Henry Preston Standish. Der New Yorker Geschäftsmann geht aus Versehen über Bord - ausgerechnet am 13. Tag seiner Schiffsreise. Und da treibt er nun mitten im Pazifischen Ozean und hofft. Nein, eigentlich ist er sich sicher, dass er gerettet wird. Denn im Grunde hängt er an dem Leben, vor dem er geflohen ist. Er wollte nur eine Auszeit nehmen, weg vom Job als erfolgreicher Börsenmakler, weg von der Familie, der überaus verständnisvollen Ehefrau und den beiden drei- und fünfjährigen Kindern. Der Tod war bei seinen Fluchtplänen keine Option. Die ganze Angelegenheit ist ihm furchtbar unangenehm.
Sonne als einziger Fixpunkt
Und so blickt er mit kühlem Kopf auf seine sicherlich bevorstehende Rettung, verhält sich vernünftig, verfällt nicht in Panik. Er schmiedet Pläne, malt sich aus, wie er von diesem Abenteuer berichtet. Doch was nützen Abenteuer, wenn man sie mit niemandem teilen kann? Wenn sie mit Standish im Ozean versinken? Der einzige Fixpunkt ist die Sonne, die bei Standishs Sturz von der S.S. Arabella gerade aufgeht. Erbarmungslos steigt und sinkt sie, zählt die Stunden und nimmt die Hoffnung mit sich.
»Gentleman über Bord« von Herbert Clyde Lewis ist eine Parabel auf das Leben. Da treibt ein Mensch mitten im Ozean, irgendwo zwischen Hawaii und Panama, und ist völlig auf sich alleine gestellt. Die einzige, aber alles bestimmende Herausforderung ist es, sich über Wasser zu halten. Keine Wellen, keine Haie erschweren das Unterfangen, aber es gibt auch keine Erleichterung. Standish muss sich ganz auf seine Fähigkeiten und sein Glück verlassen.
Der Roman des amerikanischen Schriftstellers Lewis ist über 80 Jahre alt, blieb aber über Jahrzehnte unbeachtet. Dann wurde er ins Niederländische und Spanische übersetzt und nun liegt der Roman auch auf Deutsch vor. Das Alter merkt man dem Text nicht an. Die handelnden Personen mit ihren Problemen und Problemchen, mit ihrer unterschiedlichen Art, auf Ereignisse zu reagieren - teilweise mit einer gewissen Portion Egoismus, teilweise mit Distanz - könnten heute genauso gut existieren. Der Ozean mit seiner Unbarmherzigkeit, seinem Gleichmut, für den ein Menschenleben nur ein Wimpernschlag und nichts von großer Bedeutung ist, sowieso.
Auf nur rund 160 Seiten lässt Lewis Tragik und Komik gleichberechtigt nebeneinanderstehen, wirft die großen Fragen im kleinen auf, wird bei aller Dramatik nie hysterisch. Es passiert nicht viel, und doch alles.
Ungewöhnliches Werk
Beim ersten Erscheinen des Romans wurde ihm zu wenig Substanz zugeschrieben. Der Schriftsteller und Übersetzer Jochen Schimmang zitiert in seinem Nachwort die »Saturday Review« von damals: »In seiner Art ist das Buch ziemlich gut, aber es ist eine der Geschichten, die ein Meisterwerk hätten werden können, und das ist sie ganz und gar nicht.« Schimmang dagegen urteilt: »Der Roman ist eben das Meisterwerk, das er hätte werden können.« Eines ist sicher: Es ist ein ungewöhnliches Werk, sowohl was die Handlung angeht, als auch was die Rezeption betrifft.
Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord. Mare Verlag. 176 Seiten, 28 Euro in der Mare-Klassiker-Ausstattung mit Leineneinband. ISBN 978-3-86648-696-6


