"Sorgfalt hat gelitten"

Nach Antisemitismus-Eklat auf der documenta fifteen wird um Erklärungen gerungen
Kassel/Wiesbaden -Mit einer Entschuldigung und Erklärungsversuchen geht die Aufarbeitung des Antisemitismus-Eklats auf der documenta fifteen weiter. Hessens Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) sieht das Problem zum Teil in einem fehlenden verantwortlichen Kurator begründet.
"Die Verantwortung für die gezeigte Kunst liegt in erster Linie bei der künstlerischen Leitung. Dass diese von der Findungskommission diesmal einem Kollektiv übertragen wurde, nicht einem einzelnen Kurator oder einer einzelnen Kuratorin, hat offenbar dazu geführt, dass die Sorgfalt und die Verantwortung des Kuratierens gelitten haben", sagte sie am Mittwoch. "Das ist ein Teil des Problems. Der Schaden ist entstanden und nicht wegzureden."
Die "Jüdische Allgemeine" hat unterdes den Rücktritt von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) gefordert. Die vom Zentralrat der Juden in Deutschland herausgegebene Zeitung schrieb am Mittwoch in einem Artikel: "Für wen das Versprechen ,Nie wieder Antisemitismus' keine wohlfeile Phrase ist, und davon ist bei der Bundesregierung ganz sicher auszugehen, der muss das Kulturstaatsministerium jemandem anvertrauen, der glaubhaft gegen Judenhass eintritt. Jemandem, der sein Amt mit Kompetenz und Würde ausübt."
Weiter schreibt der Chef vom Dienst der "Jüdischen Allgemeinen", Philipp Peyman Engel, in dem Meinungstext: "Entweder war Roth nicht in der Lage, Einfluss auf die sich lange abzeichnende Entwicklung zu nehmen. Oder sie konnte beziehungsweise wollte nicht verstehen, dass Judenhass eine elementare Herausforderung für unsere Demokratie darstellt. Beides disqualifiziert sie in höchstem Maße als Kulturstaatsministerin."
Das Bekenntnis zu Israel und das Eintreten gegen jede Form von Antisemitismus gehörten zur DNA der Bundesrepublik. "Steuergelder dürfen in diesem Land niemals für lupenreinen Judenhass ausgegeben werden", so die Zeitung. Die documenta habe diesem Selbstverständnis eine schallende Ohrfeige verpasst. "Es war die Aufgabe von Kulturministerin Roth, dies zu verhindern. Dabei ist sie krachend gescheitert." Selten sei die jüdische Gemeinschaft in Deutschland so in Aufruhr gewesen. Auch der Zentralrat der Juden forderte, jetzt müsse über personelle Konsequenzen nachgedacht werden. Namen nannte er allerdings nicht.
Warum schaute niemand hin?
Hessens Kunstministerin Dorn betonte, ihr sei bei der documenta gGmbH immer versichert worden, es gebe keine Hinweise auf antisemitische Bildsprache. "Warum nicht alle Werke gerade im Licht der Debatte im Vorfeld der Eröffnung eingehend betrachtet wurden und welchen Beitrag eine bessere Kommunikation durch die Gesellschaft hätte leisten können, wird zu klären sein." Zudem müsse geklärt werden, warum die Thematik vonseiten der Künstler nicht als problematisch wahrgenommen worden seien.
Die Generaldirektorin der documenta, Sabine Schormann, hatte sich zuvor entschuldigt. Es sei versichert worden, dass auf der documenta fifteen keine antisemitischen Inhalte zu sehen sein würden. "Dieses Versprechen haben wir leider nicht gehalten. Und das hätte nicht passieren dürfen", sagte sie dem ZDF und dem Hessischen Rundfunk (hr). "Antisemitische Darstellungen dürfen in Deutschland, auch in einer weltweit ausgerichteten Kunstschau, keinen Platz haben. Dies gilt ausdrücklich auch bei allem Verständnis für die Belange des Globalen Südens und die dort verwendete Bildsprache." Ein Werk namens "People's Justice" des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit antisemitischer Bildsprache hatte für eine Welle der Empörung gesorgt. Die Verantwortlichen der documenta wollten das Werk schwarz verhängen, dann wurde es doch ganz abgebaut.
Auch der Aufsichtsratsvorsitzende der Schau, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), hatte unterstrichen, dass Ruangrupa seit Beginn der Debatte immer versichert habe, dass Antisemitismus, Rassismus oder Gewalt keinen Platz auf der documenta haben würden. "In diesem einen Fall sind sie ihrer Verantwortung ganz offensichtlich nicht gerecht geworden", erklärte er.
Das Banner war erst installiert worden, nachdem viele Journalisten und Fachbesucher die documenta vorbesichtigt hatten. Als Grund wurden restauratorische Maßnahmen genannt. Das Werk war 2002 erstmals in Adelaide zu sehen.
Der jüdische Verbandsvorsitzende Michael Fürst hält es nicht für ausreichend, dass das Gemälde abgehängt wurde. Die Generaldirektorin der Kunstschau, Sabine Schormann, müsse sich fragen lassen, ob sie an richtiger Stelle sei, und womöglich auch über einen Rücktritt nachdenken, sagte der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen.
Fürst sagte: "Antisemitische Kunstwerke gehören nicht nur nicht auf eine ,Weltkunstschau', sie gehören nirgendwo hin! Das hätte sie so klar rüberbringen müssen." Das sieht wohl auch Bundeskanzler Olaf Scholz so. Anders als sonst wird er der diesjährigen documenta keinen Besuch abstatten. Begründung nach Angaben einer Sprecherin: die Antisemitismus-Vorwürfe. dpa/kna