Letzter Aufruf für Europa

Dieses Buch mit dem Titel »Final Call« ist kurz vor Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine erschienen, aber keinesfalls veraltet. Lediglich der Untertitel (»Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann«) würde sicher einen deutlicheren Russland-Bezug herstellen. Denn inhaltlich spielt Russland in der Analyse durchaus eine Rolle: Die Autorin und renommierte Europa-Expertin Daniela Schwarzer beschreibt illusionslos, wie sich China und Russland immer aggressiver gebärden und weltweit versuchen, die Demokratien zu untergraben.
Was Russland anbetrifft, so wäre der Angriff auf die Ukraine gewissermaßen der dramatische Schlussakkord, der in dem Buch aber schon als reale Möglichkeit mitgedacht ist. Denn die zunehmenden Brüche internationalen Rechts, der zynische Umgang mit der Wahrheit, Einflussnahme auf Wahlen bis hin zu möglichen Angriffen auf die europäische Infrastruktur - all das enthält Schwarzers Analyse bereits.
Die Autorin hielt es, bereits als sie das Buch 2021 verfasste, jederzeit für denkbar, dass der 2014 eingefrorene Ukraine-Konflikt von Moskau wieder erhitzt werden könnte, wie dann am 24. Februar dieses Jahres geschehen. Langfristig freilich hält Schwarzer, wie auch das US-Verteidigungsministerium in seiner jüngsten Analyse, China für die größere, weil wirtschaftlich und militärisch potentere Bedrohung, was trotz der aktuellen Kriegssituation immer noch richtig ist.
Die USA werden trotz des etwas irreführenden Untertitels nicht als ähnliche Gefahr für Europa wie China gesehen, doch Schwarzer empfiehlt, sich für den Fall zu wappnen, dass nach dem Demokraten Joe Biden entweder wieder Donald Trump oder ein ähnlich anti-transatlantisch denkender Republikaner die Präsidentschaft übernehmen könnte. Trump hatte ja Europa die Freundschaft aufgekündigt und auch starke Zweifel daran aufkommen lassen, dass er bei einem russischen Überfall auf ein baltisches NATO-Mitgliedsland eingreifen würde.
Was Europa selbst betrifft, beklagt Schwarzer die Uneinigkeit, die in der Migrations- und Corona-Politik zutage trat. In der Geopolitik hätte sich Europa, so ihr Vorwurf, allzu lange mit der Rolle des kleinen Bruders begnügt, der es sich im Schatten der Schutzmacht USA gut gehen lassen kann.
Dieses Rollenverständnis sei in den Staaten schon vor Trump kritisiert worden. Die USA hätten sich bereits unter Trumps Vorgänger Barack Obama mehr auf den pazifischen Raum ausgerichtet.
Die Autorin fordert entsprechend ihrem Buchtitel (auf Deutsch: »letzter Aufruf«), dass Europa alles dafür tun muss, »strategische Autonomie« zu erlangen. Die Dringlichkeit einer dazu passenden Forderung, die die Autorin stellt, ist erst in diesem Jahr wirklich ins Bewusstsein gerückt: Europa muss seine kritische Infrastruktur gegenüber Angriffen und Spionage durch autoritäre Staaten besser schützen. Dieter Sattler
Daniela Schwarzer: Final Call - Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann. Campus Verlag, 216 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 9783593514826.