"Ich habe das erträumte Europa gesucht"

Bei der Eröffnung des Festivals "LiteraTurm" zeigen sich tiefe Risse
Frankfurt -Ein Riss geht durch Europa und die Welt. "Riss" lautet das Motto des Frankfurter Festivals "LiteraTurm", das eine Woche lang in den Hochhäusern der Stadt mit der markantesten Skyline des Landes zu Lesungen, Debatten und Nachdenken mit renommierten Autoren, Publizisten, Historikern und Philosophen einlädt. Ein Riss ging auch durch den Eröffnungsabend in der Volksbühne neben Goethes Geburtshaus, als die Ukrainerin Kateryna Stetsevych, Leiterin der Projektgruppe Mittel- und Osteuropa in der Bundeszentrale für politische Bildung, einen der bekanntesten Schriftsteller Russlands um Erklärungen für Putins verbrecherischen Krieg bat: Viktor Jerofejew (74, "Moskauer Schönheit"). Seine Antworten befriedigten nicht.
Der Kremlkritiker, der nach dem Überfall auf die Ukraine vor den Repressalien in Russland über das Baltikum und Polen nach Berlin geflohen ist, identifizierte gleichsam zwei Seelen in der russischen Brust: Die eine ziehe es nach Europas Zivilisation, seiner Kultur und seinen Werten. Dafür stünden etwa Puschkin, Tschechow, Pasternak, Tschaikowsky. Die andere habe ihre Wurzeln in der "Goldenen Horde", jenem Steppenreich nach dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert, das einst den Osten des Kontinents dominierte. Daher stamme das Tatarische und Gewalttätige, das Russland bis zu Stalin und bis heute mit brutalen Machtstrukturen im Würgegriff halte.
Der Westen, analysierte Jerofejew, habe Russland nicht verstanden und sich über diese dunkle Seite immer Illusionen gemacht. Man habe gedacht, man müsse die Sowjetunion nur vom Kommunismus befreien, dann werde alles gut. Aber große Teile des Volkes teilten die europäischen Werte nicht. Auf Stalins Grab habe man Blumen gelegt, auf das des Komponisten Prokofjew, der am selben Tag starb, nicht. Russland drehe sich in seiner Gewaltgeschichte wie in einem Karussell, während sich die Geschichte in Europa fortentwickelt habe.
Obwohl Jerofejew bekannte, "mit ganzer Seele und ganzem Herzen" auf der Seite der Ukraine zu stehen ("Nicht ich habe Russland verlassen. Russland hat mich verlassen"), wollte Stetsevych sich mit seinem historischen "Märchen" nicht abfinden: "Warum fliehen Sie in die Vergangenheit und stellen sich nicht der Gegenwart?", bedrängte sie den Russen.
Auf die Gegenwart zielten auch die jüngeren Autorinnen Tanja Maljartschuk ("Blauwal der Erinnerung") aus der Ukraine, 2018 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, und Lea Ypi ("Frei"), die aus dem Bürgerkrieg nach dem Zerfall des kommunistisch-totalitären Albanien nach Italien entkam. Beide beschrieben bewegend ihre Biografien als Flucht vor Terror und Gewalt, als Kampf ums Überleben.
Ypi schilderte, wie trotz aller Repressionen des autoritären Regimes Reflexion und selbstständiges Denken nie aufgehört hätten, der Wunsch zu wissen, aus einem Leben in Unfreiheit herauszufinden: "Wir wollten nicht nur Opfer sein." Maljartschuk sagte: "Ich bin immer vor Gewalt geflüchtet. Ich habe immer das erträumte Europa gesucht. Ich bin nicht das Ende der Geschichte, sondern ein Anfang." Seit den Maidan-Protesten 2013/14 in Kiew hätten sich die Menschen in der Ukraine eine Zivilgesellschaft errungen. Der Kampf gegen Russland sei tragisch, aber eine Befreiung: "Hoffnung ist für die Verzweifelten. Wir dürfen nicht hoffen, wir müssen handeln. Wir sind Europäer!"
Der Historiker Gerd Koenen ("Der Russland-Komplex") nannte sich einen "Nachgeborenen der Katastrophe, die Deutschland angerichtet hat", zumal in der Ukraine. Er beschrieb die europäische Geschichte als Bildungs- und Erziehungsroman, der bei allem Scheitern und immer wieder Frustrierenden einen Läuterungs- und Zivilisierungsprozess beschreibe. Russland hingegen stecke nach wie vor in seiner Gewaltgeschichte fest. Russland unter Putin müsse jetzt "sichtbar verlieren", um aus diesem andauernden "Zirkel" heraus und zu sich selbst zu kommen.
Das Land habe sich in der Vergangenheit und bis heute nicht darüber befragt: Was haben wir mit uns selbst gemacht? Bei einer Niederlage gegen die Ukraine könne Putin schnell ins Wanken kommen, befand Koenen: "Dann kann Russland vom Paria wieder zum willkommenen Partner werden."