1. Gießener Allgemeine
  2. Kultur

Erinnerungen eines Offiziers im Kaiserreich

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Bücher haben ihre Schicksale. So ist bei mir ein vergilbtes Manuskript aus dem Nachlass meiner Patentante Hertha aus der Versenkung aufgetaucht. Es enthält die Erinnerungen ihres Lebenspartners. Der Verlag Open Publishing hat es möglich gemacht, dass seine vielfältigen Erlebnisse aus den zehn entscheidenden Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nun als Buch vorliegen.

Wie es war in der kaiserlichen Armee und was die militärischen Eliten in Europa vor 1914 gedacht und empfunden haben, das vermitteln Fells Aufzeichnungen auf unterhaltsame Weise.

Der Leutnant im Regiment Prinz Carl in Worms ist selbst-verständlich Anhänger des Hauses Hessen-Darmstadt. Wiederholt wird er zu spannenden Verwendungen im In- und Ausland »abkommandiert«. So bekommt er eine Weltläufigkeit, die weit über den Horizont eines normalen Offiziers hinausgeht.

Als im August 1910 die Zarenfamilie wochenlang in Friedberg lebt - die letzte Zarin war eine Prinzessin von Hessen-Darmstadt - wird er Leutnant der Wachkompanie. Die Zarenfamilie lädt ihn zu Tisch. Der Zar zieht ihn wiederholt ins Gespräch. Zwischen dem Mädchenschwarm Fell und der Zarentochter Alice spinnt sich ein zarter Flirt an.

Fell besucht Militärlager in Frankreich, England und in der Fremdenlegion. Im Herbst 1912 wird er auf drei Monate als Ehrengast nach Argentinien eingeladen. Die Deutschen sind die großen Lehrmeister für die dortige Armee.

Dem übersteigerten Preußentum, jeder Kriegstreiberei steht Fell ausgesprochen kritisch gegenüber. Lebendig schildert er das Leben in Berlin während seiner Zeit auf der Kriegsakademie. Noch im Juli 1914 hoffen dort alle auf die Bewahrung des Friedens. Fell hatte dann den Ausmarsch des aktiven Regiments in Worms zu organisieren. Er selbst zieht am 12. August mit der ersten Reserve in die Schlacht an der Marne. Der deutsche Vormarsch kommt voran, trotz der gut ausgerüsteten, tapferen französischen »Feinde«. Für den dann vom Hauptquartier in Bad Kreuznach am 9. September angeordneten Rückzug haben die Offiziere an der Front kein Verständnis.

Über seine nicht wenigen amourösen Abenteuer schreibt Fell mit der Diskretion eines Gentleman. Sie sind aber, wie alles, spannend zu lesen, weil der spätere Journalist Fell anschaulich schreiben konnte.

In diesen Erinnerungen wird eine längst versunkene Epoche lebendig. Was uns als tiefste Vergangenheit erscheint, liegt aber kaum 120 Jahre zurück. Es sind die Friedensjahre, in denen der von niemandem gewollte Krieg bereits drohend am Horizont steht.

Der Historiker Leopold von Ranke soll gesagt haben, er wäre bereit, ein Jahr seines Lebens hinzugeben, wenn er wüsste, wie ein einziger Tag in der Geschichte wirklich verlaufen ist. Der Leser von Fells Memoiren bekommt einen lebendigen Eindruck davon, wie es damals wirklich war. Als 1914 mit dem Krieg in Europa die Lichter ausgingen, war auch die Tradition alter Soldatenfamilien unwiederbringlich verloren. Dirk Ippen (Hrsg.)

Hans Wilhelm Fell: Soldat im Kaiserreich. 1904 - 1914. Erinnerungen des Großherzoglich Hessischen Offiziers Hans Wilhelm Fell. Open Publishing GmbH. 20 Euro, ISBN 3959122470

Auch interessant

Kommentare