Er rettet die Welt in Geschichten

Agus Nur Amal PMTOH ist der erste Star der documenta fifteen
Kassel -Kinder der Kasseler Friedrich-Wöhler-Schule kannten ihn schon: Agus Nur Amal PMTOH. Hunderte Journalisten aus aller Welt lernten ihn kennen, als der indonesische Geschichtenerzähler die documenta-Pressekonferenz im Auestadion mit einer Performance über sein Schulprojekt zum Jubeln brachte.
Hinter einem bunten TV-Schirm aus Pappe war er da: der erste Popstar der documenta fifteen. Und das, bevor sie überhaupt eröffnet wurde. Ein Star "Nein, nein!" Der 52-Jährige weist das zurück, erschrocken berührt. Was soll das? Kein Künstler wird gern mit seinen Figuren verwechselt. Außerdem passt das nicht zu dieser documenta, betont sie doch das Gemeinschaftliche, die Zusammenarbeit, das Teilen, nicht das einsame Künstlergenie.
Aber siehe da: Auch so kann großartige Kunst entstehen, gibt es Künstler, welche diese Welt zu einem besseren Ort machen. Agus, wie ihn seine Freunde nennen, ist gewiss einer von ihnen.
Geboren wurde er 1969 auf der Insel Weh vor der Nordwestspitze von Sumatra. Die indonesische Provinz Aceh, zu der Weh gehört, ist hierzulande, wenn überhaupt, als "Unruheprovinz" bekannt. Dort tobte zwischen 1990 und 1998 ein Bürgerkrieg: Es gab viele willkürliche Verhaftungen, Folter, Menschen "verschwanden". Durch den Tsunami im Dezember 2004 starben hier Zehntausende. Heute hat Aceh starke Autonomierechte, es gilt die Schari'a, islamisches Recht.
Kunst hat Agus in Jakarta studiert. Und dann? Er zog sich zurück in die Heimat, widmete sich traditionellen Ausdrucksformen, lernte von alten Meistern, wurde Geschichtenerzähler, Geschichtensänger. Ein unfassbarer erzählerischer Reichtum wird durch das Singen möglich. Und eine Erkenntnis: Der Verzicht aufs Musikalische wirkt in der Welt der Geschichten ähnlich tödlich wie das Artensterben in der Natur; es ist eine Katastrophe.
Als die politischen Spannungen in Aceh lebensgefährlich wurden, war es die Musik, die dem Geschichtenerzähler Agus über diese Zeit half. Das "PMTOH" in seinem Namen ist eine Verbeugung vor einem Lehrer, Teungku Haji Adnan P.M.Toh. Diese respektvolle Ein- und Anbindung in Früheres, Größeres ist bezeichnend für Agus. In Indonesien ist er bekannt, hatte TV-Auftritte, gründete einen eigenen Fernsehkanal. Ledig ist er; kaum ist das gesagt, möchte er sich fast schon dafür entschuldigen. Was macht ihn so erfolgreich?
Er lacht und öffnet die Hände zu einer Geste der Ratlosigkeit. Singen, stampfen, grummeln, zittern, zeigen, schweigen, lachen: Wenn Agus mit großer Geste hinter seinem Papp-Fernsehschirm auftaucht, gern auch in einem Smartphonedisplay aus Pappe in einem TV-Bildschirm aus Pappe, wirkt er wie ein Fernsehkoch.
Kein Gegenstand ist zu gering, um nicht von Agus zu neuer Bedeutung, zu neuem Sinn gesungen zu werden: Quietscheentchen, Kämme, Besenbürsten, Einweglöffel und -teller, Schüsseln, Wannen, Wäschebügel. Erleben kann man ihn und seine Werke in der Grimmwelt auf dem Weinberg, einem Lieblingsort vieler Kunstfreunde in Kassel.