Ein Jahr im Lockdown

Historiker wagen nur selten Bücher zur unmittelbaren Gegenwart. Adam Tooze ist das Risiko eingegangen und hat die erste Geschichte der Corona-Pandemie vorgelegt.
Schon mit »Crashed« war er ganz nah an der Gegenwart, das Buch zur Finanz- und Schuldenkrise ist rasch zu einem Standardwerk geworden. Nun hat der britische Historiker und Volkswirt, der an der New Yorker Columbia University lehrt, nachgelegt. Er erzählt in »Die Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen« (C.H. Beck, München 2021, 408 Seiten, 26,95 Euro) chronologisch die Geschichte der zwölf Monate vom Januar 2020 bis Januar 2021: Am Anfang gibt Xi Jinping der Weltöffentlichkeit bekannt, dass sich in China ein tödliches neues Virus ausbreitet. Am Ende zieht Joe Biden als Nachfolger von Donald Trump ins Weiße Haus ein.
Dazwischen lagen die Schockwellen einer Pandemie, die keinen Kontinent, kein Land und keine Bevölkerung ungeschoren ließ. »Die Folge war, dass der von den Verbrauchern angeführte Shutdown lange vor den von der Regierung angeordneten Lockdowns erfolgte.« Extrem lehrreich ist der internationale, vergleichende Blick auf Pandemie-Bekämpfung und Politik als permanentes Krisenmanagement. Ergebnis: All die »Alternativen«, die bestimmte Parteien oder Querköpfe bewerben, waren gar keine - zumindest fielen die Ergebnisse dort, wo solche Alternativen ausprobiert wurden, desaströs aus.
Deutschland kam vergleichsweise gut durch die Krise - wenn man vom entschlossenen und frühzeitigen Anti-Corona-Kampf in asiatischen Ländern absieht. So kamen nicht nur China (nach anfänglichem Versagen), sondern beispielsweise auch Taiwan oder Südkorea schnell wieder aus dem Lockdown - viel schneller als europäische Staaten oder die USA. Tooze rät daher zu konsequenten Schritten bei der Krisenbekämpfung.
Der Westen war zu träge
Nur mit gezielten - und hohen - Investitionen könne man Herausforderungen wie die Klimakrise meistern. Denn in der Pandemie sei die Reaktion des Westens zu träge ausgefallen - dabei nutzt Tooze den Begriff der »organisierten Unverantwortlichkeit«, den der Soziologe Ulrich Beck geprägt hatte: Es habe, auch infolge von Sparrunden, nirgendwo ein Krankenhaussystem gegeben, das die Fallzahlen einer Pandemie bewältigen konnte.
Die unterschiedlichen Reaktionen haben Folgen für die künftige Weltordnung, wie der Historiker analysiert: »Während Xis ›chinesischer Traum‹ das Jahr 2020 unversehrt überstanden hat, lässt sich von seinem amerikanischen Gegenstück nicht das Gleiche behaupten.«
Tooze analysiert vor allem die Frühphase der Pandemie - und warum ein relativ harmloser Erreger eine solch tiefe Krise auslösen konnte. »SARS-CoV-2 war, gemessen an den Maßstäben historischer Seuchen, nicht besonders tödlich. Was beispiellos war, war die Reaktion. Überall auf der Welt kam das öffentliche Leben zum Erliegen, genauso wie große Teile des Handels und des Geschäftsverkehrs.« Auf eine neue und bemerkenswerte Weise sei eine medizinische Herausforderung zu einer umfassenderen Krise geworden.
Tooze will helfen »zu erklären, wie dies geschehen konnte - nicht als Ergebnis einer verweichlichten und übermäßig auf Schutz bedachten politischen Kultur oder als Resultat einer bewussten Unterdrückungspolitik, sondern infolge struktureller Spannungen innerhalb der Gesellschaften des frühen 21 Jahrhunderts«.
Schon fast in Vergessenheit geraten ist angesichts immer neuer Rekorde an den Aktienmärkten mittlerweile auch, wie nah die Finanzmärkte am Abgrund standen. Noch am Montag, dem 9. März 2020, waren die Anleger in Panik geraten: »Die Flucht in Sicherheit verwandelte sich in einen panischen Run auf Bargeld. Die Investoren verkauften alles - nicht nur Aktien, sondern auch Staatsanleihen.«
Wie die Notenbanken, insbesondere die amerikanische Fed, durch entschlossenes Handeln eine noch schlimmere Rezession verhindern konnten, ist lehrreich. Andernfalls wäre die Krise »noch destabilisierender gewesen als der Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008«, so Tooze.
Potenziale besser nutzen
Das Fazit fällt wenig beruhigend aus: »Um die vor uns liegenden ökologischen Herausforderungen zu bewältigen, müssen wir das innovative Potenzial von Wissenschaft und Technologie nutzen. Andernfalls gibt es allen Grund zu der Annahme, dass das Jahr 2020 nur die erste einer zunehmend unüberschaubaren Reihe von globalen Katastrophen sein wird.«
Natürlich liegt es im Wesen eines Buches, das im April abgeschlossen wurde und quasi in der Gegenwart spielt, dass einige Thesen möglicherweise in einigen Monaten überholt erscheinen. Doch wer aktuell über die Bekämpfung der Pandemie und ihre Folgen mitdiskutieren möchte, kommt an Toozes Werk nicht vorbei. Ohne Zweifel das Wirtschaftsbuch des Jahres!
Adam Tooze: »Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen«, C.H. Beck Verlag, 408 Seiten, 26,95 Euro, ISBN 978-3-406-77346-4
