Ein allerletztes Buch - mit 100

100 Jahre alt zu werden, ist nur wenigen Menschen vergönnt. Umso besser, wenn’s in relativer Frische gelingt. Steigerung gefällig? Gestern feierte in Paris Georg Stefan Troller 100. Geburtstag - mit einem neuen Buch aus seiner Feder. Zudem legte, jüngst in Wien, Regisseurin Ruth Rieser aus diesem Anlass die Film-Doku »Auslegung der Wirklichkeit« vor.
Eine Betrachtung zu diesem Jahrhundertzeugen
Mehrfach hatte Georg Stefan Troller während des vergangenen Jahrzehnts in Gesprächen mit dieser Zeitung angedeutet, er werde keine weiteren Bücher mehr schreiben. Vielleicht noch eines, mehr nicht. Doch die Schaffenskraft des bei frankophilen Kulturgängern deutscher Zunge sehr prominenten Autors wollte nicht nachlassen, nicht minder seine Lust, bei den Leuten aus dem Leben zu erzählen: So stellte er etwa 2014 im Hermann-Levi-Saal des Gießener Rathauses 220 gebannten Besuchern seine 250-seitige Aufsätzesammlung »Mit meiner Schreibmaschine« vor.
2016 folgte zur Überraschung des Publikums »Unterwegs auf vielen Straßen. Erlebtes und Erinnertes«. 2017 legte der »Corso« im Wiesbadener Verlagshaus Römerweg mit großem Erfolg »Ein Traum von Paris. Frühe Texte und Fotografien« auf, was nur möglich geworden war aufgrund eines überraschenden Fundes alter Foto-Negativfilmstreifen. 2019 ließ derselbe Verlag »Liebe, Lust & Abenteuer. 97 Begegnungen meines Lebens« folgen. Nun also der 178-Seiter »Meine ersten 100 Jahre. Neue Geschichten und Berichte«, vor allem eine Kompilation von Essays, die er zuvor - hoch in seinen 90ern - in der Literaturzeitschrift »Lettre International« publiziert hatte. Und wie gewohnt ein anregender Gang durch den Raum der Erinnerungen, ohne dass das Werk zur Suche nach einer verlorenen Zeit wird.
Herausragend die Abhandlung »Die Comics meines Lebens«, die nur einer schreiben kann, der die Bedeutung der »Bandes desinées« respektive der »Graphic Novels« im franco- und im anglophonen Kulturraum einzuschätzen weiß. Dann freilich »Pariser Journal«, worin Troller erneut sein ambivalentes Verhältnis zu dieser Metropole skizziert und sein ganz anderes Herangehen an dieses Sujet zur Präsentation als Sehnsuchtsort. Worin er aber auch - hier erwähnt, weil es mit einer ausführlichen Geschichte auf der Bücherseite dieser Zeitung von 2015 korrespondiert - die Beschreibung einer außergewöhnlichen Recherche, nämlich der nach Charlotte Salomon, einer in Südfrankreich verratenen und in Auschwitz ermordeten deutschen Malerin. »L’amour toujours« dokumentiert ein amüsantes Gespräch Trollers mit Schauspielerin Hanna Schygulla und Schriftsteller Peter Stephan Jungk.
Das Innenleben
Troller lässt den Leser Einblick nehmen in sein Innenleben, seine Gedanken, gibt Auskunft - beispielsweise zur Passion des Fotografierens (»mit meiner Leica«). So habe er »den verfliegenden Moment festhalten« und sogar »unerträgliche Dinge wegfotografieren« können: Armut, Elend, Tod. »Man verwandelt Zustände in Bilder. Und ein Bild ist ja zumeist doch erträglicher als das Vorkommnis, als das ursprüngliche Begebnis.«
Hat sich ja über sein Tun definiert, sich über sein Schaffen gesucht und weithin gefunden. Über Text, Foto, Film. »Auch eine Lebensmöglichkeit«, schreibt er. Ausgrenzung und Emigration bedeuteten ja, zumal zunächst für ein Kind und einen Heranwachsenden, vor allem dies: »Du verlierst deine Eigenliebe, das bedingungslose Zu-sich-selber-Stehen«, das man aber zum Überleben brauche.
Zum 100. Geburtstag kam zudem jüngst eine 121-minütige Film-Doku von Ruth Rieser in die Kinos. Titel: »Auslegung der Wirklichkeit«. Nach der Premiere im Beisein von Georg Stefan Troller am 5. November in Wien leider zunächst nur im »downgelockten« Österreich. Einer vom Licher »Traumstern«-Kino für 19. Dezember angestrebten Preview-Präsentation blieb die Zustimmung der Regisseurin (oder des Verleihrecht-Inhabers?) versagt. Schade. Es hätte - frei nach Ernest Hemingway und dessen Sicht auf Paris - ein Fest fürs Leben werden können. Indes: Seine ersten 100 Jahre - die nimmt Georg Stefan Troller niemand mehr.
Georg Stefan Troller: »Meine ersten 100 Jahre. Neue Geschichten und Berichte«, Verlag edition memoria, 180 Seiten, ISBN 978-3930 353 415, Preis 24 Euro.
»Georg Stefan Troller«, Jubiläums-DVD-Box des Filmarchivs Austria mit Booklet, 27 Filme, darunter Ruth Riesers zweistündige Doku »Auslegung der Wirklichkeit« (2021). Preis: 29,90 Euro. Info: www.filmarchiv.at
