Die Kraft des Widerstands

Von Härte und Gewalt, Trauer, Schuld, Freundschaft und Liebe: Volker Widmanns wunderbarer Debütroman über eine schwierige Kindheit in der bayerischen Provinz ist ein großes sinnliches Erlebnis.
Es kommt nicht allzu oft vor, dass ein Autor mit fast 70 Jahren seinen Debütroman vorlegt und dass dieses Erstlingswerk dann noch dermaßen gut ist, als habe er nie etwas anderes gemacht. Genau das ist Volker Widmann gelungen, der von Haus aus eigentlich Musiker ist. Er lebt im oberbayerischen Dorf Hebertshausen, ist Vorstand eines Jazzvereins und Konzertveranstalter. Und jetzt eben auch Autor.
»Die Molche« ist ein sensibles Kindheitsporträt, eine unter die Haut gehende Geschichte um Freundschaft, Liebe, Gewalt, Trauer und Schuld inmitten der bayerischen Provinz der Nachkriegszeit. Eingebettet ist das Ganze in ungewöhnlich kraftvolle Naturschilderungen, die ein poetisches Spiegelbild der Seele des Ich-Erzählers sind.
Als Zugezogener ist der elfjährige Max in der Gemeinschaft der Dorfjungen ein Außenseiter. Er und sein jüngerer Bruder, ein »zartes, ratloses wie aus Gold gesponnenes Geschöpf«, werden von den Dorfrowdys um den Anführer Tschernik regelmäßig brutal gemobbt. Eines Tages kommt es zur Katastrophe. Der wehrlose Bruder wird von der Bande zu Tode gesteinigt. Und als sei das nicht schon grausam genug, wird diese Tatsache von den Erwachsenen auch noch geleugnet und zum Unfall deklariert. »Nur wir Kinder wussten, dass er ermordet worden war«, empört sich Max und fühlt sich gleichzeitig zutiefst schuldig am Tod seines Bruders, da er ihn nicht schützen konnte.
Graben zwischen Eltern und Kindern
Zwischen Eltern und Kindern tut sich in diesen beginnenden 1960er Jahren ein Graben auf. Vor allem die Väter sind ein Problem: Max’ Vater ist maximal desinteressiert an seinen Kindern, in der Woche abwesend, am Wochenende ganz in seine wissenschaftliche Arbeit versponnen, sprachlos. Nur ab und zu bekommt er einen Wutausbruch.
Was sind das nur für Väter
Die Väter im Dorf scheinen alle so zu sein. Die Kinder rätseln, was sie so treiben, was sie bewegt, was sie erlebt haben könnten im Krieg, vor allem aber was sie verschweigen: »Es wurde etwas beschwiegen, das gerade deswegen von allen Seiten hereindrang, überall nach oben quoll wie Blut unter einer Schneedecke. Es musste etwas zu tun haben mit Brutalität und Gewalt, mit der Gewaltsamkeit, die überall im Dorf herrschte, die unser Leben tränkte wie Sickerwasser, das von allen Seiten in einen Raum dringt.«
Zuflucht und Rückzugsort, Balsam für die Seele bietet die Natur, die Widmann in ihrer ganzen schwelgerischen Schönheit im Wechsel der Jahreszeiten mit geradezu mikroskopischer Genauigkeit beschreibt, immer aus der intensiven Wahrnehmungsfähigkeit des Jungen heraus. Es wuselt, wimmelt, grünt und sprießt in dem Buch, dass es eine Pracht ist. Eines Tages entdeckt Max in einem Weiher Molche, die ihn mit ihrer seltsamen Farbzeichnung faszinieren: »Wie konnte es derart schöne Tiere hier in dem Feuchtgebiet geben? Ich war stolz und glücklich, sie entdeckt zu haben.« Doch auch dieses Paradies wird zerstört werden. Trotz dieser melancholischen Seite ist »Die Molche« doch vor allem ein Roman über die Kraft des Widerstands und das Glück der Freundschaft. Denn Max bleibt nicht allein, sondern er findet Gleichgesinnte, zwei Freunde, die ihn aus seiner Versponnenheit befreien und sich mit ihm zusammentun, um die Macht der Tschernik-Bande zu brechen. Und er findet Marga, das Mädchen mit den braunen Zöpfen und der frisch gebügelten Schürze, die beste Schülerin und beste Sportlerin der Schule, die sein Anderssein nicht stört und provoziert, sondern schätzt.
Reise in eine frühere Welt
»Die Molche« ist auch eine Entdeckungsreise in eine untergegangene Welt, in der die Natur noch direkt vor der Haustür begann, es Dorfweiher gab und Gummitwist spielende Mädchen in Kniestrümpfen, aber auch langatmige Gottesdienste, Rohrstöcke im Schulunterricht, kriegsversehrte Männer auf den Straßen. Diese Welt ist mal magisch und romantisch, dann wieder erschreckend und abstoßend, vor allem aber ein großes sinnliches Erlebnis.
Volker Widmann: Die Molche, Dumont Verlag, Köln, 256 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-8321-8172-7