Deutungshoheit und Willkür

Ein Buch schlägt eine Schneise zwischen Wissenschaftsgläubigkeit und Querdenkerei. Das Werk hat eigentlich nur eine Schwäche: Den etwas sperrigen Titel »Die Epistemisierung des Politischen«. Anschaulicher gewesen wäre zum Beispiel »Gefahr der Expertokratie«.
Man darf an dieser Stelle an den in diesem Jahr verstorbenen legendären S.-Fischer-Lektor Walter Pehle erinnern. Er hatte einst einem jungen Wissenschaftler den umständlichen Titel zu dessen interessantem Buch über beschönigende Familienüberlieferungen ausgeredet. Mit »Opa war kein Nazi« wurde Harald Welzer dann zum Bestsellerautor.
Auch die vorliegende Schrift, die gerade mal sechs Euro kostet und in jede Jacket- oder Handtasche passt, hätte ein breites Publikum verdient. Dem Wiener Dozenten Alexander Bogner gelingt es, bei Themen wie Klima und Pandemie eine Schneise der Vernunft zwischen Wissenschaftsgläubigkeit und querdenkerischem Skeptizismus zu schlagen.
Raum für Debatten
Mit Goethe könnte man fast sagen: »Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten.« Allerdings sitzt Bogner nicht gleich weit von beiden Seiten entfernt, wie ihm schon unterstellt wurde. Nein, er sitzt natürlich viel näher bei der Wissenschaft als bei den Querdenkern, will aber »den Guten« auch nicht die alleinige Deutungshoheit über die Politik überlassen. Er sorgt sich darum, dass der Raum für Debatten in der Klima- und Pandemie-Frage zu sehr eingeengt wird. Er glaubt nicht, dass aus dem Rat der Experten, wie oft dargestellt, unmittelbare politische Handlungsanweisungen erfolgen, diese müssten vielmehr immer noch diskutiert werden. Deshalb sieht er im Falschen der Querdenkerei zumindest etwas halbwegs Gutes: Nämlich die »Alternativlosigkeit« der Politik überhaupt infrage zu stellen. Denn er kritisiert die Tendenz, die Demokratie durch eine Expertokratie zu ersetzen.
Man muss hier allerdings sagen, dass es für diesen Einspruch nicht unbedingt der oft unverhältnismäßigen Kritik der Querdenker bedarf, sondern dass etwa zum Beispiel die FDP schon sehr früh in der Pandemie davor warnte, die Grundrechte zu sehr einzuschränken. Parteichef Christian Lindner wetterte kürzlich gar gegen den »Untertanen-Geist« der Deutschen.
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden die Enträtselung und Verwissenschaftlichung der Welt vor allem von links kritisiert. Paul Feyerabend bestritt in den 1970ern das Monopol der Naturwissenschaft auf Welterklärung. Jürgen Habermas und die Frankfurter Schule prangerten damals jenen Positivismus an, dessen technisiertes Weltbild drohte, den Menschen zum bloßen Objekt zu machen. Gegen die glorifizierte Atomkraft protestierten alternative Wissenschaftler wie Robert Jungk, und gegen am Reißbrett entworfene autofreundliche Städte Psychologen wie Alexander Mitscherlich (»Die Unwirtlichkeit unserer Städte«) und Gerhard Zwerenz (»Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond«). Damals herrschte gerade auch bei sozialdemokratischen Politikern in ganz Europa der Glaube, man könne Politik durch »Social Engineering« ersetzen. Auch aus der Kritik an solchen Verengungen entstand Ende der 1970er Jahre die Partei der Grünen. Erst beim Lesen des Buches von Bogner begreift man, warum die Querdenker nicht nur Rechte anlocken, sondern es auch starke anarchische Anteile gibt, die sich zum Beispiel in den Schauspieler-Initiativen »allesdichtmachen« oder »allesaufdentisch« und der Partei »Die Basis« manifestieren.
Der Autor macht aber bei aller Sympathie für originäres Querdenken klar, dass es für die Demokratie hochgefährlich wäre, alle Wahrheitsansprüche aufzugeben. Denn wenn alles relativ und sämtliche Äußerungen gleichberechtigt wären, es nicht zumindest ein »Wahrer« oder »Falscher« gäbe, wäre auch kein echter Diskurs mehr möglich. Statt der Hoffnung auf den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« (Habermas), der mit demokratischen Entscheidungsprozeduren verknüpft ist, gäbe es nur ein gleichgültiges Nebeneinander von Echoräumen. Laut Bogner ist es durchaus plausibler, bei Klima- und Pandemiefragen dem Rat anerkannter Wissenschaftler als dem von Randfiguren zu folgen. Diese können zwar auch mal richtig liegen, aber nach dem Urteil des Autors ist jene sich emanzipatorisch gerierende Kritik oft vorgeschoben. »Aus Angst davor, dass weitreichender Expertenkonsens die Politik zu Regulierungen und Restriktionen veranlasst, die einem nicht passen, fahndet man nach Unein- deutigkeiten und Widersprüchen im Expertenwissen und wertet diese als Systemversagen.«
Bahnbrechende Gedanken
Der anarchische Diskurs, der Feyerabend vorschwebte, könnte laut Bogner leicht in Willkür und das Recht des Stärkeren umschlagen. Denn die rechten Querdenker neigen dazu, mit der sogenannten Allmacht der Experten auch die demokratischen Prozeduren infrage zu stellen. Aber zumindest die Regeln, in deren Rahmen gestritten wird, müssen unstrittig sein. Denn sonst drohen sich politische Hooligans durchzusetzen.
Die bahnbrechende Wirkung dieses Essays zeigte sich darin, dass der bekannte Politologe Wolfgang Merkel in seiner Abschiedsvorlesung an der Berliner Humboldt-Uni die Leitgedanken Bogners gleich aufgriff.
Alexander Bogner: Die Epistemisierung des Politischen. (Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet.) Reclam, 132 Seiten, 6 Euro, 978-3150113431