Bob Dylans Liederbilderbuch

Bob Dylan hat ein neues Buch geschrieben. Für jemanden, den der »Meister«, wie ihn manche in der Anhängerschar etwas übertrieben bezeichnen, ein Leben lang mit seinen Songs und Texten begleitet hat, ist dies ein klarer Auftrag: Auf zur Buchhändlerin des Vertrauens. Diese sagt dann: »Ich wusste gar nicht, dass Bob Dylan auch Bücher schreibt. Was ist das für ein Buch?
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Tja. Was ist das für ein Buch? »Die Philosophie des modernen Songs« erschien am 2. November und hat 350 prall gefüllte Seiten. Worte. Bilder. Anregungen. Irritationen. Klarstellungen. Überraschungen. Erst mal halt ein Buch.
Ist es ein wissenschaftliches Buch? Die Philosophie im Titel mag es suggerieren. Nein, mit Wissenschaft hat Dylan nichts am Hut, ganz im Gegenteil. Meist ist er selbst Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen. Seit jeher wird er kategorisiert, eingeordnet, gerne überhöht. In den Feuilletons der Welt herrscht da ein wilder Wettstreit in Sachen Bedeutungshuberei. Es gab sogar schon Bob-Dylan-Kongresse, etwa 2006 in Frankfurt. Eindringen will man in Dylans opulente Lied- und Bilderwelt und sie verstehen seine, ja, Kunst.
66 Songs in zwei Teilen beschrieben
Er schreibt dazu: »Songs, wie jedes andere Kunstwerk, streben auch sie nicht danach, verstanden zu werden. Kunst kann man schätzen oder interpretieren, aber nur ganz selten gibt es dabei etwas zu verstehen.« So geht er auch vor in seinem, sagen wir mal, Liederbuch. 66, hinter dieser Zahl könnte man ein sprechendes Geheimnis vermuten, 66 Songs hat er ausgesucht. Die werden meist in zwei Teilen »beschrieben«. Zuerst nimmt er den Leser an der Hand, macht ihn zu einem Du und assoziiert sich mit ihm durch den Song. »In diesem Song bist du der verlorene Sohn. Gestern bist du in Detroit ins Bett gegangen. Heute Morgen hast du verschlafen. Hast dir über deine Mutter Gedanken gemacht, deinen alten Papa vor dir gesehen. Jetzt willst du wieder nach Hause.« Der ursprüngliche Songtext mutiert zur Fiktion. Mit überraschender Sogkraft.
Dann folgt ein zweiter Teil. Eine historische, soziologische oder biografische Vertiefung. Wahlweise. »Als der Song entstand war Detroit ein angesagter Ort. Neue Jobs, neue Hoffnungen, neue Gelegenheiten. Und deshalb wirken Träume wie der von Bobby Bare heute noch genauso wahr wie an dem Tag, an dem er ihn zum ersten Mal besang.« Schreibt er, um dem Leser wenige Sätze später gleich wieder den Löffel des Bescheidwissens aus der Hand zu hauen. »Wieso denkt man, ein Sänger würde plötzlich eine Wahrheit offenbaren, wenn er in einem Song eine Geschichte erzählt?«
Vielleicht ist es aber auch gar kein Buch, sondern eine Jukebox? Genauso wie man Dylans Lieder lesen kann und auch sollte, kann man dieses Buch hören. Man sitzt in einer Kneipe mit alten Weggefährten, raucht, trinkt, wer Kleingeld hat, geht rüber zur Jukebox. Noch ein Lied. Man redet nicht viel. Man hört zu und reist zurück. Wie das halt so ist mit Songs. 90 Prozent von dem was man hört, ist meist nicht der Song selbst, sondern eine Erinnerung. Das, was man mit einem Lied verbindet. Gelungene Liebe. Gescheiterte Liebe. Gelungene Feten. Einsame Abende. Und überhaupt.
Johnny Cash, Judy Garland, The Who, The Clash, Little Richard, Nina Simone, Frank Sinatra, natürlich Elvis und viele, viele Unbekannte stehen um euren Tisch herum und erzählen eine Geschichte. Und Bob Dylan spinnt sie am Nebentisch weiter. »Was zählt, sind die Gefühle, die ein Song bei seinen Hörern in Hinblick auf das eigene Leben hervorruft.« Damit meint er nicht die Gefühle, welche ein lokaler Radiosender seinen Hörern zurückgeben möchte. Die hier versammelten Songs reden vom Tod, Niederlagen, all den lebensnotwendigen Irrtümern, den Tränen, der Wut, aber auch von Hoffnung und den guten Nächten. Aber auch vom Krieg. Dann wird er doch philosophisch, wenn er sich Edwin Starrs »War« anschaut. »Warum ist etwas unmoralisch, wenn man verliert, aber nicht, wenn man gewinnt?« Ist es am Ende ein politisches Buch?
Über Dylan zu schreiben birgt stets die Gefahr, auf Dylan reinzufallen. Oder wie Sam Shepard einst über das Chamäleon schrieb: »Wenn ein Rätsel gelöst wird, kommt der Fall zu den Akten. In diesem Fall, Dylans Fall, gibt’s keine Lösung des Rätsels, also beschäftigt der Fall weiter.« Und das ist, wie bei vielen Songs des »Meisters«, auch Qualität und Merkmal dieses Buches. Es gibt sie nicht, die eine Antwort. »Kunst ist keine Übereinkunft! Geld ist Übereinkunft! Ich mag Caravaggio, du magst Basquiat. Beide mögen wir Frida Kahlo, aber Warhol lässt uns kalt. Kunst gedeiht durch solche lebendigen Auseinandersetzungen.« Schreibt er im Zusammenhang mit »Money Honey!« von Elvis Presley, den der junge Robert Zimmermann anbetete.
Die eine Antwort gibt es nicht
Vielleicht ist »Die Philosophie des modernen Songs« einfach nur ein Reiseführer, der Türen öffnet. Augen und Ohren noch dazu. Ähnlich der Radiosendung »Theme Time Radio Hour«, die Dylan vor zehn Jahren moderierte und seine Hörer durch einen riesigen Fundus musikalischer Erinnerungen führte - anregte, Vergessenes oder nie Gekanntes zu betrachten. Oder ein Fragenkatalog, dem die Antwort weniger bedeutet als die Frage? Dylan war immer ein Reisender. Er schickt seine Lieder in der Welt herum. Spielt noch jedes Jahr bald hundert Konzerte. »Das Gute am Unterwegssein ist, dass man sich nicht verzettelt. Nicht mal mit schlechten Nachrichten. Du bereitest anderen Menschen Vergnügen und behältst deinen Kummer für dich.«
Was war noch die Frage? Ja, es ist ein gutes Buch. Eine Art Nachschlagewerk. Mit vielen wunderbaren Bildern. Ein Liederbilderbuch. Man kann es guten Mutes kaufen.
Christian Lugerth
Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs. Verlag C. H. Beck, 350 Seiten, 35 Euro, ISBN 978-3-406-79284-7. Auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Wolfgang Niedecken. 21,95 Euro, ISBN: 978-3-406-79388-2