Bewegende Familientragödie

Eine falsche Entscheidung, die eine ganze Familie ins Unglück stürzt - auch 20 Jahre später lassen Ella die Folgen dieser Nacht nicht los, die eigentlich mit der Freiheit enden sollte. Die junge Frau begibt sich auf Spurensuche.
Ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter erhält Ella ein Paket aus deren Nachlass. Darin enthalten sind handschriftliche Notizen, die für Außenstehende belanglos erscheinen, die Ella aber sofort einordnen kann. »Bellende Hunde«, steht darin, »waren vorher nie ein Problem, jetzt sind sie es. ›Privileg‹ (der Geruch).« Oder auch: »Schüsse (auch Türenschlagen; der Knall von einem Auspuffrohr)« und »Mit Blümchen bestickte Kissenbezüge«. Für Ella ist klar, dass es eine Liste der Dinge ist, die ihrer Mutter Angst machten. Eine Angst, die aus der Zeit herrührte, die sie im Gefängnis verbracht hat. Damals, nach dem gescheiterten Fluchtversuch aus der DDR.
Wenig Verbindung
Die Mutter redet nicht darüber, so wie die übrig gebliebene Familie auch sonst wenig gemeinsam hat, jeder in seiner eigenen Welt lebt. Die Mutter, die Kunsthistorikerin, die sich in Westberlin als Putzfrau durchschlägt, bevor sie mit ihrer Tochter Ella und deren Bruder Tobi nach London zieht. Tobi, der sich dort gut einlebt und später beruflich erfolgreich wird, während Ella als Künstlerin ihren Weg sucht und sich mit Putzen über Wasser hält. Die Kunst ist das Einzige, was Mutter und Tochter verbindet, worüber sie reden können. Die Kunst und die Suche nach Heiko.
Dabei steht so viel zwischen ihnen. Auf dem Sterbebett bittet die Mutter Ella, die Suche nach ihrem Bruder Heiko aufzugeben. Doch als Ella erfährt, dass es eine Stasi-Akte über ihre Mutter gibt, lässt sie der Wunsch, Heiko zu finden, nicht mehr los. Zwanzig Jahre lang hat sie ihn vermisst, nun sieht sie eine neue Chance, ihn endlich wieder in die Arme schließen zu können.
Vor dem Sommer 1987, der für die Familie alles veränderte, nimmt Ella wenig von dem wahr, was die Mauer, die nicht weit vom Haus der Eltern und Großeltern verläuft, vor allem für die Mutter bedeutet. An der Bösebrücke soll jemand erschossen worden sein, weil er fliehen wollte, hört sie. Doch sonst besteht ihr Leben aus dem Kinderalltag und Ausflügen zum Künstlerfreund der Mutter an den See. Er ist es auch, der den Tipp gibt, über die ungarische Grenze zu flüchten. Der als Familienurlaub getarnte Fluchtversuch misslingt gründlich. Der Vater stirbt, die Mutter kommt ins Gefängnis, der kleine Bruder Heiko wird von der Familie getrennt.
Drängende Frage
Mit der Hilfe von Aaron, der ein Praktikum im Stasi-Archiv macht, begibt sich Ella 20 Jahre später in Berlin auf Spurensuche. Die jedoch gestaltet sich schwierig und über allem steht die Frage: Will Heiko seine Ursprungsfamilie überhaupt wiedersehen?
Autorin Sophie Hardach beschreibt einfühlsam und eindrucksvoll die Ungerechtigkeit, die viele Familien in der DDR und auch in den Jahren nach der Wiedervereinigung erfahren haben. Sie erzählt von einer zerrissenen Familie, für die eine einzige falsche Entscheidung fatale Folgen hat. Der Titel »Unser geteilter Sommer« hat mehr als eine Bedeutung. Da ist zum einen die offensichtliche, die auf die Teilung Deutschlands anspielt. Es gibt die Familie, die den Sommer miteinander teilt, dann jedoch in einzelne Teile gerissen wird. Ein Roman, der bewegt. Der Leser hofft mit Ella, die entscheidende Spur zu finden, möchte ihr jedoch gleichzeitig zurufen, den Wunsch der Mutter zu respektieren und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Denn inneren Frieden für alle Beteiligten wird es wohl nicht geben.
Sophie Hardach: Unser geteilter Sommer. List, Hardcover, 368 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 9783471360477
