"Aus ihrer Sicht kein Antisemitismus"

INTERVIEW documenta-Direktorin Sabine Schormann über judenfeindliche Exponate
Kassel -Im Antisemitismus-Eklat wächst der Druck auf Generaldirektorin Sabine Schormann. Auch Rücktrittsforderungen werden laut. Bundeskanzler Olaf Scholz nannte das Kunstwerk von Taring Padi "abscheulich". Eine Sprecherin erklärte, er werde die documenta nicht besuchen. Der Vorsitzende des documenta-Forums Jörg Sperling trat umgehend zurück, nachdem sich das Forum von ihm distanzierte. Sperling hatte in einem Interview kritisiert, dass das als antisemitisch empfundene Kunstwerk "auf politischen Druck hin" abgehängt wurde. "Eine freie Welt muss das ertragen", so Sperling. Wir sprachen mit Schormann.
Frau Schormann, wie konnte es zu dem Eklat kommen?
Da muss man die Strukturen der documenta sehen. Für sie ist die künstlerische Freiheit konstitutiv. Als Geschäftsführerin bin ich für die Organisation zuständig und habe die Freiheit des künstlerischen Programms zu garantieren. Für die Kuratierung ist die künstlerische Leitung zuständig, bei dieser documenta Ruangrupa.
Ruangrupa hat einen komplett ergebnisoffenen Prozess gestartet mit weltweiter Netzwerkbildung. Das ist auf über 1500 Künstler angewachsen. Das heißt aber zugleich, dass Ruangrupa sich nicht primär als klassische Kuratoren verstehen. Das Neue an Ruangrupas Konzept ist der radikal ergebnisoffene Prozess, auf Basis von Werten wie etwa Freundschaft, Solidarität, Ressourcenschonung.
Wieso dann eine antisemitische Hasskarikatur?
Zunächst ist dabei eine wunderbar anregende, einladende Atmosphäre dieser documenta herausgekommen. Das ist das Positive. Eine andere Konsequenz des Prozesses ist aber, dass dabei eine Autarkie entstanden ist.
Also ist das Spezielle dieser Kuratierung, dass sie programmatisch gar nicht stattfindet?
In gewisser Weise. Aber nur dadurch entstehen nach dem Verständnis von Ruangrupa diese kulturell unterschiedlichen und in ihrer Vielfalt so bereichernden Erfahrungsräume. Wie wir jetzt sehen, kann dies leider auch zu Fehlentwicklungen führen, die Ruangrupa nicht ausräumen und moderieren kann.
Kunstministerin Angela Dorn hat "verantwortungsvolles Kuratieren" angemahnt. Was könnte man besser machen?
Für Ruangrupa sind die Schwierigkeiten, welche die Corona-Pandemie mit ihren vielen Einschränkungen für die künstlerische Vorbereitung mit sich brachte, nicht zu unterschätzen: die Beschränkung aufs Digitale, und dass viele Akteure erst spät persönlich zusammenkamen. Viele Dinge konnten erst in Erscheinung treten, als sie gehängt wurden.
War das so bei dem Banner von Taring Padi?
Ja. Es gehörte zu einer Fülle von Arbeiten von Taring Padi, die alle sehr verspätet per Schiffscontainer hier ankamen. Erst beim Aufhängen wurde bemerkt, dass das alte Banner, welches aus vier Einzelteilen besteht, so mitgenommen war, dass von einer Firma neue Ösen für die Befestigung eingearbeitet werden mussten.
Ist das der einzige Grund, warum das Werk erst am Freitag hing?
Ja. Und weil es ein üppig volles Wimmelbild ist, ist die antisemitische Darstellung darin im Tohuwabohu der Eröffnung nicht aufgefallen. Wir hatten gesagt, dass wir bei antisemitischen Inhalten eingreifen würden. Das habe ich umgehend getan.
Und nun?
Wir untersuchen jetzt systematisch, ob es weitere kritische Werke gibt. Dabei muss auch Ruangrupa seiner kuratorischen Aufgabe gerecht werden. Unterstützt werden sie von Experten wie Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank. Wir werden das im Verlauf der Ausstellung fortlaufend tun.
Wo ist das Versäumnis?
Es ist nicht die Aufgabe der Geschäftsführung, alle Werke vorab in Augenschein zu nehmen und freizugeben. Das würde dem Sinn der documenta widersprechen. Das ist eine Kernaufgabe der Künstlerischen Leitung. Ruangrupa haben versichert, dass es keinen Antisemitismus geben wird. Das Problem ist, dass es aus ihrer Sicht keiner ist. An dieser Stelle liegt das Missverständnis. Es ist ihnen aufgrund unserer unterschiedlichen kulturellen Erfahrungsräume zu spät aufgefallen, dass ein solches Motiv in Deutschland absolut inakzeptabel ist.
Wo ist die rote Linie?
Ich habe am Montag direkt das Gespräch mit Ruangrupa und Taring Padi gesucht. Taring Padi hat verstanden und sich dafür entschuldigt, dass sie Grenzen überschritten und Gefühle verletzt haben.
Die Grenze müsste doch klar sein: Kritik an Israel erlaubt, antisemitische Hassklischees nicht.
Deswegen muss abgewogen werden. Da, wo es eindeutig Antisemitismus ist, muss so reagiert werden, wie wir reagiert haben. Wo es strittig wird, sollten wir im Rahmen der Kunstfreiheit eine Debatte führen. Ein paar Arbeiten sind da in der Diskussion sind - beispielsweise die Guernica-Reihe am Standort WH 22.Wir sind nun an einem Punkt, wo wir uns alle einen offenen Dialog wünschen.
Was uns leidtut: dass die documenta durch die Überschreitung der Grenzen Menschen verletzt hat. Das ist etwas, was wir auf keinen Fall wollten.
Interview: TIBOR PéZSA UND FLORIAN HAGEMANN
Kulturstaatsministerin Claudia Roth fordert Konsequenzen für die Struktur der documenta mit einem Fünf-Punkte-Plan. Der Bund will mehr Einfluss.
Ruangrupa entschuldigte sich: "Wir haben alle darin versagt, in dem Werk die antisemitischen Figuren zu entdecken", schrieb Ruangrupa. "Es ist unser Fehler. Wir entschuldigen uns für die Enttäuschung, die Schande, Frustration, Verrat und Schock, die wir bei den Betrachtern verursacht haben." In Roths Stellungnahme heißt es weiter, Geschäftsführung und Kuratoren-Kollektiv müssten "lückenlos aufklären, wie es dazu kommen konnte, dass ein eindeutig antisemitisches Bild überhaupt aufgehängt wurde" und "sicherstellen, dass keine weiteren antisemitischen Werke ausgestellt werden." Vom Zentralrat der Juden vorgeschlagene Experten sollen den Prozess begleiten.
Der Rückzug des Bundes aus dem Aufsichtsrat 2018 bei gleichzeitigem Festhalten an der Bundesförderung sei ein "schwerer Fehler" gewesen. "Eine finanzielle Förderung des Bundes soll deshalb mit einer unmittelbaren Einbindung in die documenta zwingend verbunden werden." Über die bisherige Federführung von Stadt Kassel und Land Hessen heißt es: "Es hat sich gezeigt, dass die lokale Verantwortlichkeit der documenta in einem Missverhältnis steht zu deren Bedeutung als eine der weltweit wichtigsten Kunstausstellungen". dpa
