Aufbruch in der Neuen Welt

Alex Capus hat sich auf historische Persönlichkeiten spezialisiert, deren Biografie er gründlich recherchiert, bevor er seine ganz eigene Geschichte fabuliert. Seine jüngste Entdeckung: Die aus Basel stammende Susanna Faesch, die als Kind mit ihrer Mutter Maria Mitte des 19. Jahrhunderts nach New York auswandert und dort ein erstaunlich selbstbestimmtes Leben führen kann.
Als ein Schriftstellerfreund Alex Capus im Frühjahr 2019 zum ersten Mal von Susanna Faesch erzählt, lässt ihn die Geschichte des selbstbewussten Mädchens aus wohlhabendem Haus nicht mehr los. Sie hat tatsächlich gelebt, als Malerin ein gewisses Talent gehabt und traf als reife Frau - da hatte sie sich längst in Caroline Weldon umbenannt - den großen Sioux-Häuptling Sitting Bull, dessen Beraterin sie wurde. Ihr Porträt von dem stolzen alten Mann hängt heute noch im State Museum von North Dakota.
Sittengemälde mit vielen Umbrüchen
Doch wie war es zu dieser einzigartigen Begegnung gekommen? Meisterhaft entwirft Capus ein Sittengemälde jener Zeit, die geprägt ist von abenteuerlichen Umbrüchen und der industriellen Revolution. Er verknüpft den spektakulären Bau der Brooklyn Bridge in New York und den Einzug der Elektrizität in die Häuser dank Edisons Erfindung der Glühbirne mit der Lebensgeschichte einer jungen Frau, die schon immer ihren eigenen Weg gegangen ist, sich nichts hat gefallen lassen.
Der Roman beginnt mit einem Knall. Schließlich arbeitete Capus, der mit seiner Familie im schweizerischen Olten wohnt, jahrelang als Tageszeitungsjournalist, der weiß, wie man Leser von der ersten Zeile an fesselt. Beim traditionellen Fest der Zünfte im Januar sticht die fünfjährige Susanna mit dem rechten Zeigefinger dem Pferdeknecht Anton Morgenthaler das linke Auge aus: Sie hatte sich vor dem massigen Darsteller des »Wilden Mannes« gefürchtet. Die kluge Kleine macht ihren Frieden mit dem Einäugigen auf ihre ganz eigene Weise: Sie hockt sich ohne viele Worte zum Kutscher auf den Bock und lernt von ihm, wie man die Zügel richtig hält. Das wird ihr später noch von Nutzen sein.
Doch nicht nur Susanna träumt sich in eine andere Welt. Ihr ehrenwerter Vater kann nur in der Fremdenlegion Freiheit und Zufriedenheit verspüren - daheim in Basel sind die gesellschaftlichen Zwänge zu groß. Ihre Mutter aber - eine brave Frau, die schon drei Söhne aufzog - packt die Gelegenheit beim Schopf. Als ein befreundeter Kamerad ihres Mannes aus gemeinsamen Dienstjahren in Algerien, der Dortmunder Arzt Karl Valentiny, für ein paar Wochen Unterschlupf im Hause Faesch sucht und dort für frischen Wind sorgt, entschließt sich Maria, ungefragt diesem Mann nach New York zu folgen.
Schon bei seinem Bestseller »Léon und Louise« (2011) hat uns Alex Capus mit einer wundervollen Liebesgeschichte zutiefst berührt. Das gelingt ihm mit »Susanna« erneut - und zwar auf mehreren Ebenen. Denn es geht nicht nur um die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern auch um die zwischen Mutter und Kind. Susannas Band zu Maria, die mit Karl ihr stilles Glück bis zu seinem Lebensende findet, wird nie reißen - genauso wenig wie zu ihrem eigenen Sohn Christie, der in einem reinen Frauenhaushalt aufwächst (der Vater weiß nichts von seiner Existenz) und eines Tages mit seiner Mutter das größte Abenteuer erleben wird. Als im November 1886 Buffalo Bill mit seiner »Wild West Show« im Madison Square Garden gastiert, wird Christie vom Indianer-Fieber gepackt. Unterstützt von seiner Großmutter und gegen den Willen von Susanna sammelt der Junge alles, was mit diesen unrühmlichen Cowboy-und-Indianer-Kämpfen zu tun hat, bittet seine Mutter, die die Familie mit Porträtmalereien nach Fotos über Wasser hält, sogar um ein Gemälde von Sitting Bull.
Begegnung mit Sitting Bull
Es werden Jahre vergehen, bis Susanna und Christie tatsächlich Sitting Bull im Reservat nach einer langen beschwerlichen Fahrt quer durchs weite Land begegnen werden, ihm das Bild schließlich übergeben können und ihn vor möglichen militärischen Angriffen warnen.
Aber wie bei jeder sinnvollen Reise ist auch hier der Weg das Ziel - das Ziel einer emanzipierten, forschen Frau, die bereits im 19. Jahrhundert den Mut und die Intelligenz aufbrachte, nach ihren eigenen Werten zu leben und zu handeln. Ein großartiger Abenteuerroman, fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite.
Alex Capus: »Susanna«. Hanser Verlag, München. 288 S., 25 Euro, ISBN 978-3-446-27396-0