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Anspielungen auf Georges Simenon

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Das Brasserie-Restaurant »l’Amiral« an der Avenue Pierre Gueguin in Concarneau spielt in den Bretagne-Kriminalromanen von Jean-Luc Bannalec eine besondere Rolle, ist es doch des Protagonisten Rückzugsort.
Das Brasserie-Restaurant »l’Amiral« an der Avenue Pierre Gueguin in Concarneau spielt in den Bretagne-Kriminalromanen von Jean-Luc Bannalec eine besondere Rolle, ist es doch des Protagonisten Rückzugsort. © no

Kommissar Dupin kann diesmal vor der eigenen Haustür ermitteln. Kurz vor Pfingsten schreckt ein Mord das beschauliche Hafenstädtchen Concarneau in der Bretagne auf. Hinweise erhofft sich Dupin aus der klassischen Kriminalliteratur.

Mit leuchtend sphärischem Blau kündigt sich kurz vor den Pfingsttagen der Sommer im Finistère an, im bretonischen Hafenstädtchen Concarneau laufen die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten mit Musik und Tanz in der Ville Close an. Da stört ein Toter die Idylle. Ausgerechnet vor dem Lieblingsrestaurant von Kommissar George Dupin, dem »l’Amiral«, ist Docteur Chaboseau, ein angesehener Arzt aus einflussreicher Familie, offenbar aus dem Fenster des dritten Stocks gestürzt. Schnell verdichten sich die Hinweise, dass es sich nur um Mord handeln kann. Aber wer kommt als Täter infrage? Dupin ermittelt in allen Richtungen. Doch weder die Frau des Toten noch seine engsten Geschäftsfreunde, ein Apotheker und ein Weinhändler, können Anhaltspunkte liefern, machen sich vielmehr verdächtig.

In seinem achten Fall nimmt Kommissar Dupin die Recherchen zunächst zusammen mit zwei neuen Kolleginnen auf, da seine Inspektoren Riwal und Kadec wie auch seine Lieblingsassistentin Nolwenn noch im Urlaub sind. Könnte das Motiv in den vielen Interessen des Arztes liegen? Chaboseau hatte sich auch als ambitionierter Kunstsammler hervorgetan. Außerdem investierte er zusammen mit seinen Geschäftspartnern in die traditionelle Herstellung von Fischkonserven sowie in bretonische Brauereikunst. Hat jemand den Arzt etwa als Konkurrenten ausschalten wollen?

Die breit gestreuten Ermittlungen des Kommissars geben dem Autor Jean-Luc Bannalec in gewohnter Weise wieder willkommene Gelegenheit, die kulturellen, geschichtlichen und landschaftlichen Besonderheiten der Bretagne und ihre Schönheit ausgiebig darzulegen und in den hellsten Farben zu schildern. Auch der achte Fall von Kommissar Dupin wird bei aller Krimi-Spannung immer wieder unversehens zu einem erbaulichen Reiseführer. Der Kommissar führt den Leser zu den schönsten Stränden der Region, zu den beschaulichsten Orten, diesmal auch zum legendären Surferparadies La Torch - und natürlich in die besten Restaurants. Vor allem die Speisekarte des traditionsreichen »l’Amiral« dürfte dem Leser nach der Lektüre lückenlos geläufig sein. Nicht umsonst wurde Bannalec zum Mécène (Mäzen) der Bretagne gekürt. Für den Tourismus in der Region ist der Autor inzwischen eine feste Größe.

Pseudonym gelüftet

Bannalec wurde vielfach von Rezensenten auf eine Stufe gestellt mit dem belgischen Schriftsteller Georges Simenon, der seinen Kommissar Maigret ebenfalls in der Bretagne ermitteln ließ. Im »Bretonischen Vermächtnis« nimmt er den Vergleich mit dem Vater des »größten Kommissars aller Zeiten« auf kunstvolle Weise auf. Auch Simenon platzierte seinen Kommissar Maigret in dem Kriminalroman »Der gelbe Hund« ausgerechnet im »l’Amiral«, vor dem ein Mordfall geschieht. Auch ein Arzt und ein Apotheker kommen in dem Roman von 1931 vor. Aber es sei dann in dem aktuellen Fall doch vieles »völlig anders«, betont etwa der aus dem Urlaub vorzeitig zurückgekehrte Inspektor Riwal. Die Anspielungen und Querverweise durchziehen aber die ganze Geschichte. Und schließlich erhofft sich Kommissar Dupin von der Lektüre des Klassikers maßgebliche Hinweise für die Lösung seines eigenen Falls. Der Kampa Verlag brachte übrigens eine Neuauflage des »Gelben Hunds« einen Tag vor dem »Bretonischen Vermächtnis« heraus.

Die Fälle eins bis sieben sind bislang von der ARD allesamt in einer Krimi-Reihe verfilmt worden, die seit 2014 ausgestrahlt wird. Mit Pasquale Aleardi in der Rolle des Kommissars Dupin kommen die Filme allerdings nur schwer an die atmosphärische Dichte der Romane heran, obwohl sie an Originalschauplätzen der Bretagne gedreht wurden.

Für insgesamt neun Fälle habe er den Stoff im Kopf, sagte Bannalec einmal, der in Deutschland lebt, aber im Jahr zwei bis drei Monate in der Bretagne verbringt, um seinen Charakteren so nah wie möglich zu sein. Ob das »Bretonische Vermächtnis« nun tatsächlich nur noch einen Folgefall haben wird, bleibt angesichts des großen Erfolgs der Reihe allerdings abzuwarten.

Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hält auch weiterhin an dem Pseudonym Jean-Luc Bannalec fest, das allerdings schon bald gelüftet war. Zu groß war die Neugier, wem es gelingen könnte, quasi aus dem Nichts einen Bestseller nach dem anderen zu produzieren. Dahinter verbirgt sich, wie inzwischen bekannt ist, der Verleger, Literaturwissenschaftler, Herausgeber und Autor sowie Programmgeschäftsführer des S. Fischer Verlags, Jörg Bong.

Jean-Luc Bannalec: »Betronisches Vermächtnis«. Kiepenheuer & Witsch, 312 S., 16 Euro, ISBN 978-3-462-05265-7

Zur falschen Zeit am falschen Ort - nämlich als Anhalter im (gestohlenen) Wagen eines Mannes, den Polizisten auf der Landstraße mit »Nigger«-Schmähungen festnehmen: Dieser böse Zufall bringt das relativ geordnete Leben des sanften Elwood Curtis im Florida der 60er Jahre komplett aus den Fugen. Was der 16-jährige, von Martin Luther Kings Bürgerrechtsideen begeisterte Schwarze danach als vermeintlicher Autodieb in einer »Besserungsanstalt« erlebt, ist an teils schwer erträglichem Horror kaum zu überbieten.

Colson Whitehead, Träger des amerikanischen National Book Award und des Pulitzer-Preises für Literatur, legt mit seinem 224-Seiten-Roman »Die Nickel Boys« den Finger in die wohl schlimmste Wunde der US-Gesellschaft. Das jahrhundertealte, bis heute wütende Krebsgeschwür Rassismus seziert er mit Präzision, Empathie und einem großartigen Gefühl für Spannungsmomente.

Es ist eine »Geschichte von unglaublich erschütterndem Leid« und »einer ungeheuren Düsterkeit«, wie der Gastgeber des »Literarischen Quartetts« im ZDF, Volker Weidermann, in der Juni-Sendung sagte. Dort waren sich die Experten einig wie nur selten: Dieser Roman sei »unfassbar anrührend« und »ein zu Recht zorniges Buch über Rassismus« (Thea Dorn), »eine der schmerzlichsten Leseerfahrungen« (Joachim Meyerhoff).

Der 49-jährige Afroamerikaner Whitehead bedient sich dafür einer Sprache, die seine auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte um Elwood Curtis und dessen Freund Jack Turner in all ihren Schrecken meist sachlich ausmalt, hin und wieder aber auch vor Wut explodiert. Der New Yorker hatte schon für den vielfach ausgezeichneten Vorgänger »Underground Railroad« (2016) die US-Südstaaten als Kulisse seiner Rassismusschilderungen gewählt, damals in einem Szenario des 19. Jahrhunderts. Diesmal siedelt er die Handlung rund 100 Jahre später an - und lässt sie in die unmittelbare Gegenwart hineinragen.

Dass die alltägliche Diskriminierung der farbigen Mitbürger in den USA eines Präsidenten Donald Trump nicht verschwunden, sondern - im Gegenteil - eine bittere Konstante ist, muss Whitehead in diesem Roman gar nicht explizit erwähnen. »Rassismus oder schlechter Service?«, geht einem seiner Protagonisten auch Jahrzehnte nach den Erlebnissen im Erziehungsheim »Nickel Industrial School for Boys« noch durch den Kopf, als ihn eine weiße Kellnerin zu ignorieren scheint. Das latente Gefühl, als Schwarzer ein Mensch zweiter Klasse zu sein, wird dieser Mann niemals los.

Sensationelle Wendung

Curtis, dieser hochbegabte, idealistische schwarze Schüler, wächst Anfang der 60er Jahre in einem Klima von Rassentrennung, Erniedrigung und friedlichem Bürgerrechtleraufbruch in Florida auf. Dann wirft die zufällige Bekanntschaft mit dem Autodieb Rodney all seine zarten Aufstiegspläne über den Haufen.

Der zweite Teil des Whitehead-Romans wiegt den Leser mit der Ankunft im äußerlich adretten »Nickel« zunächst in trügerischer Sicherheit. Doch schon bald ändert sich alles mit Curtis’ Versuch einer Streitschlichtung. Die drastische Darstellung rassistischer Gewalt von Anstaltsaufsehern in der (ausgerechnet) »das Weiße Haus« genannten Prügelbaracke trifft mitten in die Magengrube.

Es gibt auch manchen Leerlauf im gefängnisartigen Alltag der beiden befreundeten Protagonisten Curtis und Turner - eine willkommene Beruhigung zwischen diversen Ausbrüchen primitivster Gemeinheit und irrsinniger Brutalität im »Nickel«. Der im Jahr 2014 angesiedelte Prolog des Romans - die Ausgrabung der verscharrten Leichen ermordeter Schüler - klärt sich im Laufe der Handlung, die in einem Fluchtversuch kulminiert. Wie dieses Drama zweier zuletzt fast gebrochener schwarzer Jungs mit einer sensationellen Wendung ausgeht, sollte auf keinen Fall verraten werden - Spoilern verboten!

Im Nachwort schreibt Whitehead: »Dieser Roman ist fiktiv, alle Charaktere sind erfunden, inspiriert wurde er jedoch durch die Geschichte der Dozier School for Boys in Marianna, Florida.« Es macht dieses Buch nur noch bewegender, dass die Ereignisse so ähnlich in den USA tatsächlich stattgefunden haben. Die Qualität von »Die Nickel Boys« stünde aber auch ohne jeden Authentizitätsnachweis außer Frage. Traurige Realität - gespiegelt in »großer Literatur«, wie die Schriftstellerin Thea Dorn im ZDF-»Quartett« lobte. Werner Herpell

Colson Whitehead: Die Nickel Boys. Übersetzt von Henning Ahrens. Carl Hanser Verlag, München. 224 S., 23 Euro, ISBN 978-3-446-262-768

Andreas Maier gilt als moderner Heimatschriftsteller. Fast alle seine Bücher kreisen um die nördlich von Frankfurt gelegene Wetterau, wo der Autor 1967 in Bad Nauheim geboren wurde. Seine Herkunft hat er zu einem großen autobiografischen Projekt gemacht, das auf elf Bände angelegt ist. »Ortsumgehung« heißt doppeldeutig die Erforschung der eigenen und auch der regionalen Geschichte. Es begann mit »Das Zimmer« und »Das Haus«. Zuletzt erschien »Die Universität«.

Im siebten Teil unternimmt Maier nun den Versuch, die eigene Familie verstehbar zu machen. Erst einmal geht es bei ihm zu Hause im Städtchen Friedberg genauso so zu wie in vielen bürgerlichen Familien in den 1960/70er Jahren. Die Kinder rebellieren gegen die strenge Etikette zu Hause. Der einige Jahre ältere Bruder treibt sich gerne bei »Hasch-Hugo« in libertären Kreisen herum.

Die bürgerliche Fassade zerbricht zu Hause endgültig, als der Vater in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf dem großen Familiengrundstück eine alte Mühle von einem Bagger zerstören lässt. Das Fachwerkgebäude hatten die Behörden unter Denkmalschutz gestellt. Das durchkreuzte die Pläne der Familie, die dort bauen wollte. Der Vater - als Jurist in einem Unternehmen beschäftigt - gibt sich den Kindern gegenüber ahnungslos, während der Fall hessenweit für Schlagzeilen sorgt.

Der Autor gräbt in der von Mythen und Lügen umrankten Familiengeschichte noch ein bisschen tiefer. Dabei geht es auch um die Mutter, die nach 1945 einen traditionsreichen Steinmetz-Betrieb übernahm, der dann zum Familiensitz wurde. Plötzlich erfährt der Autor mithilfe einer Freundin, dass ein Teil des riesigen Familiengrundstücks vor dem Krieg einem jüdischen Fabrikanten gehörte. »Wir sind die Kinder der Schweigekinder«, lautet die bittere Erkenntnis Maiers. Mehrfach fragt er die Mutter, der er auch die Liebe zur Literatur verdankt, nach den familiären Verstrickungen während des Nationalsozialismus. Eine richtige Antwort erhält er nicht. Letztlich bleibt ihm nur noch Zynismus: »Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihren eigenen.«

In der laufenden Chronik der »Ortsumgehung« ist der neue Band sicherlich der für den Autor schmerzhafteste. Maier erzählt dies essayistisch in einem lakonischen Ton, manchmal mit fast böser Ironie. Ein Zeichen dafür, wie hilflos er den starren Konventionen seiner Familie gegenübersteht. »Avatare« - also künstliche Personen - nennt er deren Mitglieder, weil sie in ihren vorgegebenen Rollen feststecken. Es scheint ganz so, als ob der Autor mit seiner Familie noch lange nicht fertig ist. dpa

Andreas Maier: »Die Familie«. Suhrkamp Verlag, Berlin. 166 S., 20 Euro, ISBN 978-3-518-42862-7

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