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Zwischen Nähross und Pferdekummet

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Von: Gabriele Krämer

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ik_Doermer4_240322_4c © Gabi Kraemer

Säuberlich nebeneinander aufgereiht liegen und hängen die teils filigranen Werkzeuge. Die alte Sattlerwerkstatt in der Licher Oberstadt entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Fundgrube voller Lokalkolorit. Sie ist ein Kleinod - und erzählt die Geschichte einer Familie und des Traditionsbetriebs »Lederwaren Dörmer«.

Die Schaufensterdekoration zeugt noch heute von den Glanzzeiten des Familienunternehmens, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckten. In der Passage zum Hof, gleich neben dem stattlichen Fachwerk-Geschäftshaus - einem Blickfang in der Licher Oberstadt - kündet vor allem ein schweres prächtiges Pferdekummet von solider Handwerkskunst anno dazumal. Ein anderer, kleiner Teil des Gebäudes wird heute als Ferienwohnung genutzt. Hinten in den Werkstatträumen, in der alten Sattlerei und in der Polsterwerkstatt, da scheint die Zeit stehengeblieben zu sein.

Gerhard Dörmer, ein Licher Urgestein, berichtet höchst konzentriert und überaus detailreich vom Alltag in dem einstigen Meisterbetrieb. Dieser hatte am 7. April 1938 unter der Leitung seines Vaters Ludwig Dörmer die Arbeit als Sattlerei und Polsterei aufgenommen und bis zum endgültigen Aus des Traditionsgeschäftes im Sommer 2020 als »Lederwaren Dörmer« weit über die Stadt hinaus einen exzellenten Ruf genossen.

Der Biografie seines Vaters zollt der 83-jährige Gerhard Dörmer bis heute größten Respekt: In Lich war Ludwig Dörmer, am 11. März 1906 im Hofgut in Schönstadt geboren, durch seine Lehrzeit von 1920 bis 1923 bei Sattlermeister Kutt gelandet. Dieser hatte sich im Haus von Bäcker Albach (dem späteren Schloss- café) niedergelassen. »Oben im Saal, da wurde gepolstert. Kastenmatratzen oder dreiteilige Matratzen, je nach Einkommen. Das teuerste waren Rosshaarprodukte«, hat sich Dörmer aus den Erzählungen des Vaters gemerkt. Dieser arbeitete zunächst als Geselle in einer Autosattlerei; zur Meisterprüfung im September 1936 lieferte er einen Sessel im Bauhausstil ab. Bereits ein Jahr zuvor hatte er Cäcilie Schmidt geheiratet. So war es nun an der Zeit, ein eigenes »Nest« herzurichten. Das fand sich 1937 in der Oberstadt 11, wo ein Geschäftshaus mit Tankstelle zum Verkauf stand. Wenige Monate nach der Geschäftseröffnung, am 13. September 1938 erblickte Dörmer jr. das Licht der Welt. Das Leben der kleinen Familie wurde bald jäh in den Grundfesten erschüttert - Zweiter Weltkrieg. Das Geschäft stand still.

Als der Vater aus dem Krieg zurückkam, gab es reichlich Bedarf an dessen Handwerkskunst. Vor allem Pferdegeschirre und speziell der Bau von Kummets (das sind gepolsterte und mit Stroh und z.B. Rehhaar gefüllte Bügel, die den Pferden um den Hals gelegt werden) waren gefragt. Der Name Dörmer war in dieser Hinsicht über 30 Jahre führend im Landkreis Gießen.

Nachfrage gab es sowohl von der Licher Brauerei, die ihre mächtigen Bierkutschen-Gespanne auszurüsten hatte, als auch seitens der regionalen Landwirtschaft. Von Anfang an gab es enge Geschäftsbeziehungen zur Brauerei, zum Möbelhaus Kambeitz (Polsterungen für Eckbank-Gaststätten), zu den Licher Tonwerken und zur Obermühle Pastau (Treibriemen-Herstellung). Man half sich gegenseitig aus - »jeder Handwerksbetrieb in der Stadt hat damals den anderen unterstützt. Schwarzarbeit? Die gab es da nicht«: Jedenfalls kann sich Gerhard Dörmer nicht entsinnen, so etwas je von seinem Vater gehört zu haben.

Akribisch hütet der 83-Jährige die Aufzeichnungen von anno dazumal. 1948 kostete die Arbeitsstunde 80 Pfennig. Mit fortschreitender Motorisierung wuchs die Nachfrage nach Sitzpolstern für Lkw (vornehmlich der Brauerei) und ledernen Kühlerhauben für Pkw. »Nach dem Krieg wollten alle ein Chaiselongue, um sich mittags darauf auszuruhen«, sagt Dörmer. Und kann sich ein Lachen nicht verkneifen: Sogleich erscheinen Wandbilder mit behäbigen röhrenden Hirschen, die damals so ziemlich jede »gute Stube« prägten, vor seinem geistigen Auge.

Es gab reichlich zu tun. Der Junior stieg ins Geschäft mit ein und nahm im väterlichen Betrieb eine Lehre als Geschirrsattler auf. Neue Aufträge ergaben sich Ende der Vierzigerjahre: US-amerikanische Clubs in Gießen, Butzbach, Bad Nauheim und Friedberg fanden Gefallen an Bar- und Thekenmöbeln aus dem Hause Kambeitz, denen mittels Ausstattung mit rotem Kunstleder und Ziernägeln via Vater und Sohn Dörmer der ultimative Pfiff verliehen wurde. »Das war immer ein Erlebnis für mich«, deutet Gerhard Dörmer einzelne Erinnerungen an jene vor-Ort-Installationen an.

Mitte der Fünfzigerjahre kam es zum Umbruch; Aufträge stagnierten. »Die Bauern ließen nichts mehr machen«, erinnert sich Dörmer. Mit der Anfertigung von Schulranzen, Gürteln und Hundeleinen aus Leder hatte er indes schon als Lehrling Erfolg - ohne Ladengeschäft allerdings würde es keinen Umsatz geben.

So nahm er allen Mut zusammen und legte dem Vater eine Neuausrichtung ans Herz - mit Erfolg. Ein großer Umbau 1957 zog die Verlagerung der Sattlerwerkstatt in die ehemaligen Garagen im Hof nach sich, das Haus in der Oberstadt wurde zu einem modernen Geschäft mit einer stattlichen Schaufensterfront.

Während im Vorderhaus fleißig beraten und verkauft wurde, herrschte hinten in der Werkstatt Hochbetrieb: Eckbänke für Gaststätten und Küchen wurden dort gepolstert, Matratzen und große Polstergarnituren hergestellt, Schonbezüge für Pkw und Sportwagen-Verdecke angefertigt.

Polstermöbel oder Matratzen für Kunden in Lich wurden mit dm Handwagen ausgeliefert. Zu Kunden in Albach, Hattenrod, Burkhardsfelden, Nieder-Bessingen, Münster, Birklar und Ober-Bessingen ging’s mit Bauernfahrzeugen.

Das Familienunternehmen entwickelte sich so gut, dass am 1. April 1967 mit Otto Weber ein Geselle und vier Monate später mit Karl-Heinz Reinke auch ein Lehrling eingestellt werden konnten. Doch dann starb der Vater 61-jährig, er fand am 23. August 1967 mitten im Ladengeschäft den Tod. »Über Nacht hatte ich plötzlich ein Geschäft zu führen«, sagt Gerhard Dörmer. Da er 1965 seine Meisterprüfung abgelegt hatte, war die Weiterführung von Handwerks- und Ausbildungsbetrieb mit Ladengeschäft gesichert. Mit tatkräftiger Unterstützung von Ehefrau Christa entwickelte er das Familienunternehmen weiter.

Fortan firmierte der Betrieb unter dem Namen »Raumausstattung Dörmer«. Zeitweise waren in Werkstatt und Laden bis zu zehn Personen beschäftigt (einige davon in Teilzeit). Die Geschäftsphilosophie der Familie fiel auf fruchtbaren Boden. » Beratung, Verkauf, Service: Die Drei gehören zusammen in einem Lederwarengeschäft«, lautet Dörmers erklärte Überzeugung.

Seinen Aufstieg, den habe er mit Teppichboden erlebt, sagt der 83-Jährige. »Tuft-Teppich« kam aus den USA und war sozusagen der sprichwörtliche letzte Schrei: Dörmer zog dafür beispielsweise den ersten Auftrag aus dem Licher Krankenhaus an Land.

Noch heute geht ihm ein Werbespruch aus jenen Tagen leicht über die Lippen: »Teppichböden lass von Dörmer legen - der Qualität und des Service wegen!« Der Geschäftsmann blieb mit seinem Portfolio am Puls der Zeit: Schwere Gardinenstoffe wurden aus den Wohn- und Geschäftszimmern der Licher als Staubfänger verbannt - Dörmer hatte von Geschäftsreisen in Belgien die pflegeleichten Lamellen-Stores mitgebracht und pries sie nun mit Erfolg im eigenen Gardinen-Atelier an.

Gemeinsam mit Ehefrau Christa führte Dörmer das Unternehmen bis 2008 fort. Dann wurde der Laden an die ehemalige Verkäuferin Monika Böhler-Stoppel verpachtet; im Juni 2020 schlossen sich die Pforten - nach 82 Jahren war Schluss. Online-Handel und Corona-Pandemie hatten ihren Tribut gefordert.

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ik_Doermer3_240322_4c © Gabi Kraemer
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Das betagte Nähross könnte auch heute noch gute Dienste leisten: In seiner Werkstatt hält Gerhard Dörmer die Sattlerbank und viele Arbeitsgeräte in Schuss. © Gabi Kraemer

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