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Zahlen sinken - Probleme bleiben

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Von: Rüdiger Soßdorf

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Die Zahl der Geflüchteten, die in den Kreis Gießen kommen, ist derzeit rückläufig; doch ein Bericht zur Lage zeigt strukturelle Aspekte auf, an denen gearbeitet werden muss. © DPA Deutsche Presseagentur

Gießen (so/bf). Anfang Januar wurde vom Regierungspräsidium Darmstadt eine wöchentliche Zuweisung von 750 Geflüchteten aus der Erstaufnahmeeinrichtung in die hessischen Städte und Landkreise angekündigt. Vier Wochen später, Anfang Februar, wurde die Zahl nach unten korrigiert, so seien ab 20. Februar wöchentlich 550 Personen zu erwarten Das bedeutet aktuell für den Landkreis Gießen:

Zu Beginn dieses Jahres waren pro Woche rund 40 Personen aufzunehmen. Derzeit sind es 15 bis 20 Menschen.

Diese Zahlen hat die Kreisverwaltung am Mittwoch dem Sozialausschuss des Kreistages in einem Bericht zur Situation der Geflüchteten im Kreis vorgelegt.

Gleichwohl wird davon ausgegangen, dass diese Zahlen kurzfristig wieder steigen können - etwa durch eine mögliche Frühjahrsoffensive in der Ukraine oder eben Naturkatastrophen wie das Erdbeben in der Türkei und in Syrien.

Seit Jahresbeginn sind 63 Menschen aus der Ukraine und 117 aus anderen Herkunftsländern im Landkreis Gießen aufgenommen und untergebracht worden.

In den 44 Gemeinschaftsunterkünften und den zehn Übergangseinrichtungen in den 17 Städten und Gemeinden mit insgesamt 2170 Plätzen sind derzeit rund 1650 Plätze belegt. Letztes Jahr erst hat der Kreis zehn Holzmodulbauten mit je 30 Plätzen angemietet und hat aktuell den Bau von vier eigenen Gebäuden mit bis zu 160 Plätzen in Vorbereitung. Dort sollen insbesondere Familien längerfristig unterkommen können.

Auch wenn derzeit noch freie Kapazitäten zur Verfügung stehen, sucht der Landkreis Gießen weiterhin Gemeinschaftsunterkünfte, heißt es in dem Bericht. Dies, um auf wieder steigende Zahlen vorbereitet zu sein.

Anders als in den Jahren 2015/16, als die Mehrzahl der Flüchtlinge unter 30 Jahre und männlich war, suchen aktuell viele Familien und Frauen mit Kindern um Aufnahme und Schutz nach. Was sich wiederum auf die Betreuung in Kindertagesstätten und auf Schulen auswirkt,

Als »besonders prekär« wird die kinderärztliche Versorgung charakterisiert. So könnten die gesetzlich vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen (die sogenannten U-Untersuchungen) nicht sichergestellt werden. Auch der Mangel an Kita-Plätzen wirkt sich bis in die Grundschulen aus. Denn immer mehr Schulanfänger besäßen zu geringe oder keine deutschen Sprachkenntnisse.

Weiteres Feld in dem Bericht: Der Wohnungsmarkt gerate zunehmend unter Druck. Zwar ziehen Menschen aus den Gemeinschaftsunterkünften auch wieder aus - aber vornehmlich finden nur jene eigenen Wohnraum auf dem Markt, so legt der Kreis dar, die einen hohen Bildungsgrad haben und/oder verwandtschaftlich gut vernetzt sind.

Das heißt zugleich: Der andere Teil geflüchteter Menschen verbleibt in den Unterkünften. Damit verminderten sich aufgrund der Gegebenheiten (keine eigenen Zimmer, keine ruhige Lernumgebung) insbesondere für die Kinder die Chancen auf eine erfolgreiche Schulkarriere.

Die Nachfrage nach Integrationskursen ist groß. Derzeit gibt es gemessen an der Nachfrage aber zu wenig Angebote - es mangelt an Kursleitungen. Was also tun? Da gibt es Stimmen, die dafür plädieren, die Anforderungen an die Qualifikation von Kursleitungen zu senken. Weitere Hürde: Die mangelnde Kinderbetreuung für die Zeit, in denen Eltern in den Kursen seien. Betroffen seien in der Hauptsache alleinerziehende Frauen. Schonungslos spricht der Bericht davon, durch das derzeitige Fluchtgeschehen würden Mängel in den sozialen Systemen deutlich. Besonders in medizinischer und pflegerischer Versorgung sowie Kinderbetreuung mit inklusiven Maßnahmen. Die Befürchtung: »Es entsteht ein zunehmender Kampf um knappe Ressourcen zwischen Angehörigen der Aufnahmegesellschaft und neuen Gesellschaftsmitgliedern«, aber auch unter den Geflüchteten. Eben wegen unterschiedlicher Behandlung von Bürgerkriegsflüchtlingen aus der Ukraine und Bürgerkriegsflüchtlingen beispielsweise aus Syrien. Dies habe zu einer Konkurrenzhaltung der Geflüchteten untereinander beigetragen.

Der Appell seitens des Kreises, und der geht an die Politik: Es sollte schnellstmöglich in die Stärkung der sozialen Systeme investiert werden, um diese Entwicklung zu stoppen beziehungsweise im besten Fall ins Positive umzukehren. Insbesondere im Bereich der kindlichen Entwicklung und der schulischen Bildung müssten langfristig wirksame Strukturen geschaffen werden, um Bildungsrisiken zu kompensieren. Kurzfristige Projekte sind perspektivisch nicht geeignet, um nachhaltig Wirkung zu entfalten.

Ausgesprochen positiv würdigt der Bericht das umsichtige Unterbringungsmanagement. Damit sei es gelungen, auf Massenunterbringungen wie in Turnhallen, Dorfgemeinschaftshäusern oder Festzelten zu verzichten. Dank der hervorragenden Arbeit des Fachdienstes sei es im Vergleich zu anderen Landkreisen zu keinen gravierenden Vorfällen von Gewalt gekommen. Sowohl im Team der Sozialarbeit als auch im Team der Leistungsgewährung würden aus heutiger Sicht aber weitere Mitarbeiter benötigt, um der Betreuung der geflüchteten Menschen auch zukünftig gerecht zu werden.

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