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»Wir waren auch schon im Darknet«

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Von: Jonas Wissner

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Seit 20 Jahren existiert der Lollarer »Computerclub« unter Federführung von Wilfried Jost (l.). Mitbegründerin Inge Leinweber (Mitte) ist zugleich die älteste Teilnehmerin. © Jonas Wissner

In teils atemberaubendem Tempo hat die Digitalisierung in den vergangenen Jahrzehnten Einzug gehalten. Bei manchen Senioren überwiegt noch immer Skepsis - doch das gilt längst nicht für alle: Der »Computerclub« des Lollarer Seniorenbeirats stellt sich seit 20 Jahren digitalen Herausforderungen.

Mittwoch gegen 18 Uhr: Im Lollarer Jugend- und Beratungszentrum trudeln sieben Senioren ein - und verlieren keine Zeit. Alle packen ihre Laptops aus, verbinden sie mit dem Strom, dann kann es losgehen. Die meisten tippen noch mit zwei Fingern, doch die Handgriffe sitzen. Für einige ist das wöchentliche Treffen des »Computerclubs« seit etwa 20 Jahren ein fester Termin. Was sie hier besprechen, hat ihr Leben ein Stück weit verändert.

Wilfried Jost schaut zu Inge Leinweber hinüber, die mit einem besonders modernen Laptop aufwarten kann. »Mit beleuchteter Tastatur!«, sagt Jost. »Die älteste Schachtel hat den neuesten Computer«, erwidert Leinweber lächelnd. Die 88-Jährige war von Anfang an dabei, hat den »Computerclub« mit Jost aus der Taufe gehoben. Damals, erzählen sie, hätten sie sich im Rahmen der Initiative »Agenda 21« in Lollar eingebracht. Das von der UN initiierte entwicklungs- und umweltpolitische Aktionsprogramm sollte lokal umgesetzt werden. Ein »Jugendrat« schuf ein Internet-Café, das dann auch dem »Computerclub« des Seniorenbeirats als erstes Domizil diente.

20 Jahre später dreht Jost eine Runde um den Tisch und schaut, ob alle klarkommen. Die Teilnehmer haben sich eingeloggt. »Gehen Sie mal ins grüne Auge«, bittet Jost - und die Gruppe weiß Bescheid: Über ein Fernwartungsprogramm kann er den anderen zeigen, was auf seinem Bildschirm gerade vor sich geht.

Hier gibt es keine Tagesordnung. Jeder kann IT-Probleme und Ideen ansprechen, die dann gemeinsam angegangen werden. Diesmal hat ein Senior eine Frage zu »Maps.me« - einer App, die mit GPS-Daten Navigation mit Offline-Karten ermöglicht. Wer annimmt, es gehe hier nur um absolute Grundlagen des Digitalen, irrt gewaltig: Auch viele deutlich jüngere Menschen könnten hier wohl noch einiges lernen.

Jost ist, wie schnell deutlich wird, ein IT-Fachmann, voller Begeisterung für die digitale Welt und zugleich geduldig mit den anderen Senioren. Auch im Rentenalter ist er noch als Datenschutzbeauftragter für Firmen tätig - und interessiert sich stets auch dafür, wie sicher Programme und Internetseiten sind.

»Anfangs haben wir noch mit Diskettenlaufwerken gearbeitet«, blickt Jost zurück. Inzwischen haben bis auf einen in der Runde alle ein Smartphone - und sich über die Jahre mit vielem beschäftigt. Jost zückt eine lange Liste mit gesammelten Themen. Sie reicht von Youtube und Städteerkundung über Bildbearbeitung und Suchmaschinennutzung bis zu Virenschutz, Bewertungsportalen und Archivierung. Eine Vielfalt, bei der vermutlich kein Volkshochschulkurs mithalten kann.

»Wir waren auch schon im Darknet«, verrät Jost - ein Teilnehmer habe befürchtet, dass im nächsten Moment Ermittler vor der Tür stehen. »Da haben wir viel gesehen, hätten auch Waffen kaufen können - aber wir haben nichts Strafbares gemacht.« Der Tor-Browser, der weitgehend anonymes Surfen nicht nur im Darknet ermöglicht, sei an sich »nichts Böses«, unterstreicht Jost. Es ist ein Beispiel dafür, dass die Gruppe über den Tellerrand hinausblickt.

Die Teilnehmer sind zwischen Ende 60 und Ende 80, manche Mitstreiter von einst leben nicht mehr. Die Senioren sind ohne Smartphones und Internet aufgewachsen, doch im Beruf hatten manche schon mit der aufkommenden Digitalisierung zu tun.

Computer in den privaten Alltag zu integrieren, ist für diese Altersgruppe nicht selbstverständlich. Was hat sie hier dazu bewogen? »Meine Schreibmaschine war kaputt. Da hat mein Sohn gesagt: ›Du brauchst keine neue - nimm meinen Computer!‹«, so Leinweber. Auch über den »Computerclub« sind ihr die Vorzüge bald klar geworden: Als Vorsitzende des Seniorenbeirats sei sie jetzt auch mit der Stadt »vernetzt«, könne mit digitalen Vorlagen arbeiten. Und wenn sie nun Reisen plane, müsse sie vorab nicht Prospekte wälzen, sondern informiere sich online schneller.

»Ich bin froh darüber«, sagt die 88-Jährige. Doch vor 20 Jahren habe sie mancher belächelt, teils gar angefeindet. »Anfangs wurde mir gesagt: ›Was wollen die mit einem PC? Die spinnen!‹« Heute mag sich manch einstiger Spötter wünschen, er wäre damals selbst auf den digitalen Zug aufgesprungen. »Jetzt sind sie neidisch«, sagt Leinweber.

Auch andere Teilnehmer scheinen von Vorteilen der Digitalisierung überzeugt. »Ich bin in einem Verein und mache jetzt die ganze Buchhaltung über den Computer«, berichtet eine Frau begeistert. Als ihr Sohn in München gelebt habe, erzählt eine andere, habe sie sich Fahrten dorthin online raussuchen und Tickets ausdrücken können. Und die Seniorin auf ihrem Nachbarplatz verfolgt inzwischen gern die Nachrichtenlage online.

Die Beispiele unterscheiden sich, doch jeder und jede hier hat, so scheint es, an der einen oder anderen Stelle festgestellt, dass Internet, PCs, Smartphones und Co. manches erleichtern können. So geht es aber bei Weitem nicht allen Menschen in höherem Alter. »Es sträuben sich viele«, heißt es aus der Runde, die Skepsis sei teils noch immer groß.

Trotz der eigenen positiven Erfahrungen scheint sich der »Computerclub« einig: Druck auf Senioren auszuüben, um online zu gehen, sei »ein Unding«, das dürfe nicht sein. »Es sollte ein Recht geben, dass keiner gezwungen wird, an Videokonferenzen teilzunehmen«, sagt Jost. »Auch manche Krankenkassen wollen alles online machen«, echauffiert sich eine Seniorin.

Während der Corona-Jahre hat sich gezeigt, wie wichtig digitaler Austausch sein kann - ob in Büros, Schulen oder Freundeskreisen. Das gilt auch für diese Lollarer Gruppe: Um in Verbindung zu bleiben, haben sich die Senioren virtuell getroffen, per Videokonferenz über das Programm »BigBlueButton«. Er habe ein paar große Kopfhörer bestellt, die auch bei jungen Gamern beliebt seien, berichtet Jost. Die Teilnehmer sind froh, dass der Kontakt nicht abgerissen ist. Seit einigen Wochen treffen sie sich wieder in Präsenz

»Nachhaltigkeit« sei hier von Anfang an zentral gewesen, betont der Gründer, im Sinne eines langfristig angelegten Angebots. »Wir sind eher ein Club als ein Kurs« - und erst recht kein »Leistungskurs«. Für Jost steht fest: »Es geht um Sicherheit durch Erfahrung - wie beim Autofahren. Es muss permanent sein.«

»Wir sind mit Herrn Jost immer auf dem neuesten Stand«, sagt Leinweber anerkennend. Eine andere Seniorin ergänzt: »Herr Jost ist ein Segen!« Nach anderthalb Stunden werden die Laptops wieder eingepackt - aber nur vorübergehend.

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