„Neue Ära“ der Corona-Krise: „Unspektakulärer, aber mysteriöser“

Während die Corona-Inzidenz wieder ansteigt, fällt auf: Es gibt nur noch wenige Todesfälle. »Die Zeiten von Krankenhausbeatmung, Stress und Blaulicht sind weitgehend vorbei«, sagt Prof. Friedrich Grimminger (63), Leiter des neuen Bereichs Pneumologie an der Asklepios-Klinik in Lich. Doch eine neue, »leise und mysteriöse« Bedrohung mache sich bemerkbar.
Herr Prof. Grimminger, steht uns im Herbst die vierte Corona-Welle bevor?
Sie rollt längst auf uns zu und lässt sich nicht mehr stoppen. Und sie wird höher schwappen als die Wellen davor. Wir werden sicherlich Inzidenzen in dreistelliger Höhe haben, die Schwindel auslösen werden - und das meine ich auch im wörtlichen Sinne. Aber in einem entscheidenden Punkt wird sich die vierte Welle von ihren Vorgängerwellen unterscheiden: Wir werden deutlich weniger Todesfälle und weniger Patienten in den Krankenhäusern haben. Die neue Covid-Bedrohung ist leiser und unspektakulärer, aber mysteriöser.
Wie meinen Sie das?
Es ist das Long-Covid-Phänomen. Das ist eine sehr beunruhigende Beobachtung im Langzeitverlauf gerade von leichter erkrankten jüngeren Patienten, die wir nach und nach erkennen und noch nicht verstehen.
Sie haben als Intensivmediziner und Pneumologe täglich mit Patienten zu tun, die unter den Langzeitfolgen von Covid-19 leiden. Was konkret beunruhigt Sie?
Die Langzeiteffekte kommen in ihrer vollen Ausprägung erst nach und nach in das öffentliche Bewusstsein, weil sie zu Beginn der Pandemie durch die Dramatik der akuten Krise mit all ihrem Elend verdeckt wurden. Fakt ist: Zwischen 20 und 35 Prozent der Covid-Patienten haben sehr lange nach Ablauf der messbaren Infektion noch mit Spätfolgen zu kämpfen. Und die Liste der Symptome wird immer länger. Wir treten in eine neue Ära: in eine Post-Covid-Welt, in der Millionen Menschen auf der Welt die langfristigen Folgen ihrer Infektion erleben. Long Covid ist noch ein Mysterium, das wir von anderen primären Atemwegsinfektionen nicht kennen. Es betrifft fast alle Organsysteme im menschlichen Körper. Von den Gelenken und der Muskulatur über Herz und Lunge bis hin zum Nervensystem. Hier gibt es auch kaum eine erkennbare Abhängigkeit von der Schwere der Infektion und dem Alter. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass dieses Virus noch lange nicht fertig ist mit uns und dass es wirklich gemein sein kann.
Woran merke ich, dass ich Long Covid habe?
Auffällig und leicht diagnostizierbar sind zunächst Störungen im Herz-Kreislauf-System und in der Lunge. Luftnot, Leistungsabfall und Engegefühl in der Brust sind erste Symptome. Auch chronischer Husten und Wasser in den Beinen, wenn die Durchblutung der Lunge gestört ist, können auftreten.
Corona: Experte macht sich Sorgen um Langzeiteffekte im Nervensystem
Wohin wende ich mich in einem solchen Fall?
Wenn Sie nachweislich eine Covid-Infektion hatten, gehen Sie am besten in eine Covid-Ambulanz, hier im Kreisgebiet dann in die Gießener Uniklinik. Ansonsten gehen Sie zum Hausarzt oder Internisten, der über einen Antikörpertest nachweisen kann, ob Sie in der Vergangenheit eine Infektion hatten und der auch andere Ursachen abklären kann.
Ist es richtig, dass jeder fünfte Long-Covid-Patient unter Organschäden leidet.
Das stimmt. Was dabei am meisten Sorgen erregt, sind die Langzeiteffekte im Nervensystem. Das sogenannte Neurocovid. Viele klagen über das Fatigue-Syndrom. Das dürfen Sie nicht mit Müdigkeit verwechseln. Es bedeutet eher Energielosigkeit, ein chronischer Zustand der Erschöpfung, die Patienten können dabei gleichzeitig unter Schlafstörungen leiden. Andere zeigen langfristig Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder entwickeln neuropsychiatrische Auffälligkeiten. Störungen des Gleichgewichtssinns und wie eingangs erwähnt der Schwindel gehören ebenso zum Symptomspektrum wie Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn.
Wann treten die Symptome auf, und vor allem: Verschwinden sie wieder?
Ein Teil dieser Phänomene tritt früh auf und kann wieder verschwinden - ein anderer Teil entwickelt sich schleichend und persistiert. Ob das alles auf einer Schädigung durch das »frühe Virus« in der akuten Krankheitsphase beruht oder durch eine chronische Infektion mit versteckten Virusrestbeständen schleichend ausgelöst wird, muss geklärt werden - ebenso die Frage, ob es sich gar um eine durch Corona fehlgesteuerte Immunreaktion handelt.
Was ist Ihre Antwort?
Wir wissen es noch nicht. Es wird vermutet, dass sich das Virus länger im Nervengewebe aufhält. Nachweisen konnte man das bisher nicht eindeutig. Wir tauchen in diese Welt gerade erst ein. Ähnlich mysteriöse neurologische Symptome traten übrigens auch nach der großen Influenza-Pandemie Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Encephalitis lethargica auf. Millionen Patienten litten damals jahrzehntelang unter Antriebslosigkeit, unkontrollierbaren Schlafanfällen und zeitweise unter Störungen, die an die Parkinson-Krankheit erinnern. Auf die Grippe-Pandemie folgte die sogenannte SchlafPandemie.
Haben auch Sie Patienten, die vom Fatigue-Syndrom betroffen sind?
Ja, viele, und gerade die Jüngeren sind betroffen. Sie kommen nicht auf die Beine.
Ungeimpfte und Corona: „Es wird alle treffen“
Wie behandeln Sie diese Patienten?
Sie werden dann vor allem von Psychologen und Psychiatern behandelt, da es noch keine spezifischen Medikamente gegen diese Störungen gibt. Aber stellen Sie sich mal vor, dass vier bis fünf der knapp acht Milliarden Menschen auf der Welt nicht rechtzeitig geimpft werden und im schlimmsten anzunehmenden Fall 20 Prozent unter den genannten Langzeitfolgen leiden würden. Dann wären am Ende einer völligen Durchseuchung der Ungeimpften mehrere Hundert Millionen Menschen von Long Covid betroffen. Das wäre eine Belastung der globalen Gesundheitssysteme, die man bislang nur aus Science-Fiction-Romanen kennt.
In dieser Rechnung gehen Sie aber davon aus, dass jeder von ihnen mit Corona infiziert werden wird.
Es wird alle treffen. You can run - but you sure can’t hide! Daran gibt es keinen Zweifel. There’s no way out. Es gibt nur den einen Ausweg: die Impfung. Sollte jemand versuchen, dem Virus aus dem Weg zu gehen, wird er das nicht sein ganzes Leben durchhalten. Weil Corona nie vorbeigehen wird. Die Impfung hilft übrigens wahrscheinlich sogar gegen Post-Covid.
Das heißt, dazu gibt es bereits Forschungsergebnisse?
Es gibt erste Studien über Patienten, die unter Long Covid, Luftnot und dem Fatigue-Syndrom gelitten haben und die sich nach vier bis acht Monaten haben impfen lassen. Die Long-Covid-Effekte verschwinden bei diesen geimpften Patienten den Studien zufolge eher als bei Menschen, die nicht geimpft wurden.
Sie haben als Satellit Ihres internationalen Lungenzentrums in Gießen an der Licher Asklepios-Klinik mit Kollegen gerade eine neue Abteilung für Pneumologie etabliert. Beobachten Sie dort einen Zustrom an Patienten?
Der Zustrom ist wirklich sehr hoch, der Bedarf nach einer klinischen Pneumologie und nach Lungenforschung ist enorm gestiegen. Die Menschheit muss gegen diese Viren und gegen die Beteiligung der Lunge bei der Coronavirus-Infektion anforschen, um die Langzeitfolgen wirtschaftlich und gesundheitlich zu begrenzen.
Ist die Forschung denn in den vergangenen Jahren vernachlässigt worden?
Sie ist ein Jahrzehnt lang zu langsam gewesen. Das liegt daran, dass die vorherigen Einschläge durch neue Viren immer ziemlich schnell beherrscht werden konnten. Ebola und SARS zum Beispiel sind relativ schnell wieder verschwunden. Jetzt haben wir den ganz großen Einschlag, der das alles in den Schatten stellt und unser System überfordert hat. Es hat sich in den vergangenen Jahren auch für die Pharmaindustrie nicht nachhaltig gelohnt, in die Entwicklung von antiviralen Schutzimpfungen gegen neue Viren zu investieren. Jetzt sind die Pharmaunternehmen in einer anderen Rolle und sagen: Okay, wir machen das nur noch mal mit, wenn wir für die Zukunft auch die Absicherung haben, dass uns die Präparate, die wir für Milliarden Euro herstellen, entweder abgenommen oder wir bei Nichtbedarf entschädigt werden.
Corona-Krise: „Wissen über Coronavirus und wie es im Körper wirkt, viel zu wenig“
Ist es nicht schade, dass ausgerechnet eine so schwere Krise dazu führen muss, dass endlich mehr in die Forschung investiert wird.
Diese schwere Krise musste wahrscheinlich kommen, damit die Menschheit aus einer schläfrigen Selbstgewissheit erwacht. Und die Menschheit ist jetzt erst mal hellwach. Es ist eine Herausforderung der existenziellen Art wie die Klimakatastrophe. Wir können bei Corona übrigens weder davon ausgehen, dass es zukünftig nur den Menschen infiziert, noch davon, das es bei dieser einen Corona-Variante bleibt. Auch Tiere, die in der Nähe von Menschen leben, sind zukünftig Infektionsziele beziehungsweise könnten zu einem gigantischen Mutationsreservoir werden. Neue »Aufzuchtvarianten« aus Mensch und Tier könnten sowohl ansteckender als auch gefährlicher sein.
Wo gibt es den größten Forschungsbedarf?
Wir wissen über das Coronavirus und wie es im Körper wirkt, viel zu wenig. Zum Beispiel wissen wir nicht, ob die Infektion mit dem Virus eine normale Immunität auslöst oder ob sich bei jeder neuen Infektion in bestimmten Individuen die Erkrankungsschwere verstärkt. Beim Dengue-Fieber, einer anderen Viruserkrankung, ist das der Fall, da ist die zweite Infektion deutlich schwerer als die erste. In manchen Fällen manipuliert das Coronavirus die Immunantwort des Patienten. Es kann sie abschwächen oder - noch schlimmer -- gegen den Wirtsorganismus umlenken. Oder nistet sich das Virus wie eine Art Schläfer im Körper ein und verbleibt dort wie beispielsweise die Viren, die Aids oder Zoster auslösen? Fakt ist: Es gibt bei Corona sehr viele Fragen, die noch Jahre brauchen, bis sie beantwortet sind.
Was haben Sie als Pneumologe über das Coronavirus gelernt?
Erstaunlich ist, dass Corona alle Bereiche in der Lunge betrifft. Das ist sehr ungewöhnlich für eine Erkältungskrankheit. Die Atemwege, die kleinen Luftbläschen und die Blutgefäße werden beeinträchtigt. Das heißt, dass auch die tiefe Lunge infiziert wird. Entzündungen in den Blutgefäßen führen dazu, dass Blut gerinnt. Die roten Blutkörperchen können sich nicht mehr den Sauerstoff aus den Lungenbläschen holen, weil der Zugang verstopft wird. Im Durchschnitt dauert es zwölf Wochen, bis die Röntgenbilder wieder klar werden. Aber bei einigen bleibt der Effekt bestehen. Die Folgen sind beispielsweise schwere Luftnot auch lange nach der Corona-Infektion und ein beklemmendes Gefühl im Brustkorb. Hinzu kommt, dass zwischen den Luftbläschen und den Blutgefäßen, wo normalerweise nichts ist, bei manchen Long-Covid-Patienten narbige Strukturen entstehen. Das ist gefährlich. Beim Einatmen lässt sich nicht mehr so viel Sauerstoff aufnehmen. Und die Lunge wird steifer. Das Atmen fühlt sich an, als würde in der Tiefe ein verklebter Marshmallow liegen.
Auch Kinder von Long Covid betroffen?
Weiß man eigentlich, welche Altersgruppen von den Langzeitfolgen am schwersten betroffen sind?
Das ist das nächste Mysterium: Was die Sterblichkeit angeht, sind ja vor allem ältere Menschen über 60 betroffen. Aber diese Phase haben wir längst hinter uns, die Infizierten sterben nicht mehr annähernd in so hoher Zahl wie zu Beginn der Pandemie. Das liegt daran, dass ein Großteil der Menschen über 60 bereits geimpft ist. Die Langzeitfolgen aber treffen alle Altersgruppen, Senioren sind dabei nicht häufiger betroffen als Jüngere. Wir sprechen bei Long Covid wohlgemerkt über Langzeiteffekte und Symptome, die sehr viele jüngere Menschen treffen, die sehr schwache Akutverläufe hatten. Das können 20 bis 35 Prozent der an Corona Erkrankten sein. Auch wenn die meisten davon kein Krankenhaus gesehen haben, erreichen wir in Deutschland im Worst-Case-Szenario kumulativ über die nächsten Jahre irgendwann eine Zahl von bis zu einer Million Menschen, die unter Spätschäden leiden.
Über Long-Covid bei Kindern und Jugendlichen gibt es noch sehr wenig Wissen.
Das stimmt. Inwieweit die langsamen, chronischen Folgen auch Kinder treffen können, wissen wir noch nicht genau. Wir brauchen hier möglichst schnell Aussagen der Forschung. Die Zeiten von Krankenhausbeatmung, Stress und Blaulicht sind weitgehend vorbei, das wird bei Kindern nicht auftreten. Aber Long-Covid-Effekte sind ein mögliches Risiko, und die können sehr subtil sein.
Hinterlässt es bei Ihnen nicht ein Gefühl von Hilflosigkeit, wenn das Unwissen über Corona in der Forschung noch so groß ist?
Die Hilflosigkeit ist jetzt dem guten Gefühl gewichen, dass man den Kampf aufnimmt und die Menschheit nachhaltig von dem kommenden Innovationsschub profitieren wird. Wir haben alle Voraussetzungen und Fähigkeiten, den Kampf zu gewinnen. Die Wissenschaft wird in nie dagewesenen internationalen Teamleistungen Forschungsanstrengungen unternehmen, um für die Zukunft besser gerüstet zu sein. Der sicherste und schnellste Weg aus der Krise und zur Vermeidung der Langzeitfolgen bleibt aber die Erhöhung der Impfquote. Die Risiken der Impfung sind minimal und stehen in überhaupt keinem Verhältnis zu den großen Risiken einer echten Infektion, bei der man dem Virus erlaubt seinen gesamten Werkzeugkasten in den Körper einzuschleusen und möglicherweise dort zu verstecken. Trotz aller Sorge können wir sagen: Das Virus hat zwar über drei Milliarden Jahre Entwicklungsvorsprung vor dem Menschen, aber unser Werkzeugkasten ist auch nicht schlecht.