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»Wir schreien nicht laut genug«

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Von: Stefan Schaal

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»Die Bürokratie ist oft ein Bremsklotz«, sagt Hanspeter Gruber. © Stefan Schaal

Hanspeter Gruber ist seit mehr als 20 Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen. Als Mitglied im Fahrgastbeirat des Landkreises wehrt er sich gegen die Bauweise von Bussen des Herstellers Mercedes. Doch sein Einsatz für die Belange von Menschen mit Behinderung ist immer wieder ein Kampf gegen Windmühlen.

Mittendrin - und doch nicht dabei. Der 65 Jahre alte Staufenberger Hanspeter Gruber ist mitten im Leben und aktiv, der Rollstuhlfahrer engagiert sich politisch für die Rechte von Menschen mit Behinderung, sitzt im Fahrgastbeirat der Stadt und des Landkreises, er spielt Saxofon in einer Big Band, singt im Kirchenchor und gibt Schülern Nachhilfe. Doch immer wieder gibt es Momente, in denen er nur wenig Gehör erhält oder benachteiligt wird, weil er im Rollstuhl sitzt.

Wenn Gruber beispielsweise in der Treiser Hauptstraße wenige Meter von seiner Wohnung entfernt in den Bus zwischen Gießen und Grünberg, über eine Rampe hineinrollt, wählt er den Platz, der für Rollstuhlfahrer reserviert ist. »Ich stehe dann aber quer im Raum, es ist eng, das ist sehr unangenehm.« Jede Kurve, jede Bremsung und jede starke Beschleunigung sei belastend, er werde regelrecht durchgeschüttelt. »In den Bussen der Stadtwerke in Gießen passiert das nicht«, diese seien behindertengerechter gebaut, sagt Gruber.

Der Staufenberger aber ist kein Jammerer. Sondern einer, der handelt und sich einsetzt. Er hat dem RMV geschrieben und auf das Problem in den Bussen des Herstellers Mercedes hingewiesen. »Die haben meine Kritik nach unten an den Kreis delegiert«, berichtet er.

»Ich bekomme dann die Antwort, dass das Fahrzeug vom TÜV zugelassen sei und dass man da nichts machen könne.« Auch ein zweiter Brief an den RMV brachte keinen Erfolg. An der Bauweise der Busse lasse sich nichts ändern, sei ihm geantwortet worden.

Gruber atmet tief ein. »Das ist ein Schildbürgerstreich«, sagt er. »So löst man kein Problem. Wahrscheinlich schreien wir nicht laut genug.« In so mancher Frage der Barrierefreiheit sei Deutschland nicht olympiareif.

Gruber sitzt zu Hause in seinem Wohnzimmer. Aus Lautsprechern dringt Klaviermusik. In der Küche ist für einen Augenblick ein Zischen zu hören. Ein Assistent, der dem Staufenberger in seinem Alltag hilft, bereitet einen Espresso zu. Heute, erzählt er, treffe sich der Kirchenchor, in dem er als Bassist singt, zu einer Probe im Freien auf dem Sportplatz. Doch wenn es regnet, stellen sich die Sänger unter ein Vordach des Sportlerheims. »Dort sind Treppenstufen, das ist deshalb für mich nicht möglich.«

Vor mehr als 20 Jahren wurde bei Gruber die Krankheit Multiple Sklerose diagnostiziert. Zunächst habe er den Rollstuhl nur für weitere Strecken zu Fuß gebraucht. »Die Strecken wurden im Lauf der Jahre immer kürzer.«

Gebäude wie beispielsweise die meisten Heimatmuseen im Landkreis können Rollstuhlfahrer wie Gruber ohne Hilfe nicht von innen sehen, und auch in Gaststätten wird es schwierig. Das vor wenigen Wochen geschlossene Lokal »Zum guten Born« in Treis habe er immer über eine Rampe besuchen können. Auch in die Staufenberger Ratsschänke komme er hinein. Doch die Toiletten zu erreichen, sei in vielen Restaurants schwierig. »Eine Stufe kann schon schwierig sein«, sagt Gruber. »Als Fußgänger nimmt man derartige Hindernisse nicht wahr.«

Ein mildes Lächeln liegt auf Grubers Gesicht, wenn er von den Schwierigkeiten als Rollstuhlfahrer erzählt. Der langjährige Stadtverordnete für die Grünen und Behindertenbeauftragte Staufenbergs ist ein Kämpfer, der seine Bissigkeit nicht nach außen trägt.

Menschen mit Behinderung seien im Kreisgebiet wenig vernetzt, räumt Gruber ein. Zwar gebe es bundesweit beispielsweise die Multiple Sklerose Gesellschaft. Auf dem Dorf aber seien Menschen mit Behinderung auch nicht über soziale Netzwerke organisiert.

Will Gruber im Rollstuhl eine Straße überqueren, muss er erst mal schauen, ob der Bordstein auf beiden Seiten abgeflacht ist. »Nicht an jeder Ampel ist eine Schrägung. Manchmal muss ich mich 100 Meter zurückbewegen, um an eine geeignete Stelle zu kommen«, sagt er - und verdeutlicht, wie viel im Kreis für Menschen mit Behinderung noch zu tun ist. »In der Stadt Gießen sind viel mehr behindertengerechte Übergänge geschaffen worden als in der Pampa.«

Gruber schwärmt von behindertengerechten Taxis, die er einmal auf einer Reise in London gesehen hat. Er wünscht sich einen kreisweiten Einsatz der Schnellbusvariante, die zwischen Londorf und Gießen existiert. In Staufenberg schlägt Gruber immer wieder kleine Rampen für Bushaltestellen vor. »Aber die Bürokratie ist oft ein Bremsklotz«, sagt er. Und Menschen mit Behinderung hätten zu wenig Lobby. »Oft höre ich: ›Du hast recht.‹ Dann aber wird zum nächsten Thema gewechselt. Und nichts passiert.«

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