»Von Erzfeinden zu Freunden«

Wettenberg (m). »Seid kritisch und fragt - verinnerlicht die Folgen von Krieg, Verfolgung und Vertreibung - macht Euch bewusst, dass Flüchtlinge bei uns keine Fremden sind, sondern Mitmenschen«. Das war der eindringliche Appell von Gerhard Bökel. Der ehemalige Landtagsabgeordnete, Landrat des Kreises Wetzlar und Mitglied der Bundesversammlung, war dieser Tage zu Gast an der Gesamtschule Gleiberger Land (GGL).
Nach seinem Rückzug aus dem politischen Leben widmete sich der Jurist, der unter anderem für die Frankfurter Rundschau journalistisch tätig war und in Gießen studiert hat, dem deutsch-französischen Verhältnis. Dies vor dem Hintergrund der Nazizeit, der Résistance - dem französischen Widerstand gegen die Besatzer - und dem langwierigen Prozess von einer Erzfeindschaft zur Freundschaft beider Völker.
In der GGL-Aula gelang Bökel, was nicht selbstverständlich ist: Schüler folgten über 90 Minuten mit großer Aufmerksamkeit und Interesse seinem Vortrag, der sich inhaltlich an den aktuellen Unterrichtsstoff anlehnte. Grundlage dafür ist Bökels Buch »Der Geisterzug, die Nazis und die Résistance«. Ein zeitlich wertvolles Dokument, das seine Lebendigkeit und Nachvollziehbarkeit durch Zeitzeugen erhält, die Bökel in Frankreich immer wieder besucht hat.
Im Mittelpunkt von Lesung und Vortrag stand »Train Fantôme« - der Geisterzug, dessen Odyssee (die GAZ berichtete mehrfach) er anhand einer Landkarte nachzeichnete: Ein Zug aus Güter- und Viehwagons setzt sich am 3. Juli 1944 von Toulouse aus in nordwestlicher Richtung in Bewegung.
Ziel ist das Vernichtungslager Dachau, doch die Bahnstrecke besteht nur noch aus Fragmenten. Das bedeutet, Umkehr, Rückfahrt, Umwege über Nebenstrecken bis nach Bordeaux und über Angoulême, wieder zurück nach Bordeaux. Nach drei Tage Verweildauer im stehenden Zug bei großer Hitze werden die Gefangenen, die alle aus dem Widerstand kommen, in eine zum Gefängnis umfunktionierter Synagoge getrieben. Zehn Häftlinge kommen ins nahe Lager Souge und werden dort hingerichtet. Den Schießbefehl ordnete damals ein Wehrmachtsangehöriger an, der nach dem Krieg als Richter in Frankfurt/M. Recht sprach.
Am 10. August setzt sich der Zug mit 155 weiteren Gefangenen wieder in Bewegung. Ein Tag später ein erneuter Luftangriff der Alliierten auf den Zug; die Piloten konnten nicht wissen, dass sich dort französische Gefangenen aufhielten. Die Lok ist zerstört - vier Tage Aufenthalt in Remoulins. Die Rhone kann wegen zerstörter Brücken bei Avignon nicht befahren werden und der Zug hält in Roquemaure (Partnerstadt von Ehringshausen). Von hier folgt ein 17 Kilometer langer qualvoller Gewaltmarsch der 700 ausgemergelten Gefangenen, bei großer Hitze nach Sorgues (seit 50 Jahren Partnerstadt von Krofdorf-Gleiberg). Hier versorgt die Bevölkerung notdürftig die Gefangenen. Durch das Rhonetal fährt der Zug weiter. Am 28. August Ankunft im Konzentrationslager Dachau. Von 700 Internierten des Geisterzuges werden 536 in das KZ eingeliefert. Die übrigen konnten unterwegs flüchten, wurden erschossen oder starben an Folgen der Strapazen. Die Hälfte der vom Zug nach Dachau Deportierten kamen nie zurück.
Jahrzehnte dauerte es, bis die Überlebenden bereit waren, darüber zu sprechen. Durch seine Recherchen und Besuche gewann Bökel das Vertrauen der Betroffenen und gab ihnen in seinem Buch eine Stimme. Für die Schüler der Jahrgangsstufe 10 war es eine eindrucksvolle Lektion in Geschichte, dank der besonderen Gabe von Bökel, durch Sprache und Gestik den Zugang zu ihnen zu finden. FOTO: M