Warum manche den Besuch der Tafel in Allendorf scheuen
Die Tafeln sammeln aussortierte, aber genießbare Lebensmittel ein und geben sie weiter. Auch in kleineren Orten gibt es Standorte, doch das Stigma der Armut schreckt manch potentielle Kunden ab. Ein Besuch bei der Ausgabe in Allendorf/Lumda.
Wenn im Fernsehen über Tafeln berichtet wird, sind häufig lange Schlangen vor Ausgabestellen in Großstädten zu sehen. Doch Armut ist kein Alleinstellungsmerkmal von Metropolen. Sie trifft auch Menschen auf den Dörfern – kleidet sich dort aber manchmal unauffälliger.
Wer in Allendorf am Donnerstagnachmittag am Pfarrhof der evangelischen Kirchengemeinde vorbeigeht, sieht kaum etwas Überraschendes. Für die anderthalbstündige Ausgabe der Tafel stehen 18 Kunden auf der Liste. Als ein Kunde zählen Einzelpersonen oder Familien.
Gut 40 Menschen – Kinder, Mittelalte, Senioren – erreicht die Zweigstelle in Allendorf zurzeit. Jeder hat seinen festen Termin. Alles läuft entspannt ab, von Hektik, Drängeln, Andrang keine Spur.
"Auf den Dörfern schämt man sich"
Die Sonne strahlt, brütende Hitze. Auf dem Pfarrhof steigt eine ältere Frau aus ihrem dunklen Auto, kramt Taschen und Tüten aus dem Kofferraum. War der erste Tafel-Termin für sie eine große Hemmschwelle? Die 70-Jährige lächelt stumm und nickt.
»Ich habe zwei Nachbarinnen, die nicht hierher kommen wollen. Manchmal bringe ich ihnen etwas mit. Es ist so traurig, dass gerade die Älteren sich oft nicht trauen, zur Tafel zu gehen. Besonders auf den Dörfern schämt man sich, das ist schon so.«
Für sie selbst sind die Lebensmittel der Tafel ein wichtiger Baustein, um über die Runden zu kommen. »Ich bekomme knapp 500 Euro alles in allem, das reicht vorne und hinten nicht. Aber ich will nicht jammern.«
Viele Senioren betroffen
Wie zahlreiche Tafel-Kunden ist die freundliche Frau im Alter von Armut besonders betroffen. »Ich habe drei Kinder ohne das Sozialamt groß gezogen. Da fühle ich mich jetzt nicht schlecht, wenn ich hierher komme. Ich habe genug gearbeitet.«
»Wenn du das Leben liebst, dann klappt das auch«, sagt die Frau mit kurzen Haaren in ruhigem Ton. Vielleicht, vermutet sie, ist der Umgang mit Armut auch eine Generationenfrage. Gerade bei Jüngeren hat sie das Gefühl, dass viele vor ihrer prekären Situation resignieren.
Das Stigma muss weg
Bürgermeister Thomas Benz
In kleineren Orten mit überschaubaren Nachbarschaften kennt man sich noch. Jenseits der Anonymität von Großstädten bleibt weniger verborgen. Bürgermeister Thomas Benz, der heute zufällig vorbeischaut und anpackt, sieht das ähnlich. »Mir fehlen da ein bisschen die Worte, aber dieses Stigma muss weg.«
»Was hier nicht wegkommt, wird verbrannt.«
Es gehe »auch darum, die Leute zu sensibilisieren. Wenn sie sich hier Lebensmittel holen, können sie sich dafür etwas anderes leisten«, sagt Tafel-Mitarbeiterin Christel Reeh. In Allendorf ist sie von Anfang an dabei, seit 2013, hat vorher schon in Gießen bei der Ausgabe mitgewirkt. »Es ist doch nichts Schlimmes. Was hier nicht wegkommt, wird verbrannt.«
Und tatsächlich: Wer hier für einen fast symbolischen Preis – maximal drei Euro je Kiste – Lebensmittel kauft, lebt nicht auf Kosten anderer, isst niemandem etwas weg.
11 Millionen Tonnen an Lebensmitteln landen in Deutschland jährlich auf dem Müll, wie aus einer Studie der Uni Stuttgart von 2012 hervorgeht.
Absurde Situation
Etwa 61 Prozent davon wird in Privathaushalten weggeworfen. Aber auch in Supermärkten werden täglich haufenweise Lebensmittel entsorgt, die durchaus noch genießbar, aber nicht mehr an den Kunden zu bringen sind. Eine absurde Situation, von Verbrauchern durch ihr Konsumverhalten mit erzeugt.
Neben »Foodsharing«-Gruppen, die aussortierte Lebensmittel beim Einzelhandel abholen und teilen, gehören die Tafeln zu den großen Abnehmern von Lebensmittelbetrieben. Unternehmen sparen dabei Geld, weil keine Entsorgungskosten anfallen. »Die Märkte schaffen möglichst alles zu uns, wir sind quasi die Entsorger«, sagt Reeh. Und doch ist sie froh, für die aussortierten Reste noch dankbare Abnehmer zu finden.
Fingerspitzengefühl gefordert
In dem kleinen Tafel-Raum am Pfarrhof ist es angenehm kühl. Die per Kühlwagen aus Gießen angelieferten Lebensmittel, darunter viel Obst und Gemüse, werden in Kisten ausgegeben und von den Kunden umgepackt. Dazu gibt es Milchprodukte und Brot. Das Essen würde für noch mehr Kunden reichen.
Dass manches übrig bleibt, liegt wohl weniger an mangelnder Bedürftigkeit, sondern an der sozialen Hemmschwelle. »Man muss gucken, wie man die Leute erreicht«, gibt Bürgermeister Benz zu bedenken. »Wir unterstützen die Tafel – uneingeschränkt.«
Neuerdings seien Mitarbeiter des Allendorfer Bürgerbüros angehalten, Bürger gegebenenfalls auf die Tafel-Ausgabe hinzuweisen. Doch von Armut Betroffene auf ihre Bedürftigkeit anzusprechen, ist eine heikle Angelegenheit, weiß Christel Reeh. »Das braucht viel Fingerspitzengefühl.«
Allzu offensives Werben um neue Kunden sieht die langjährige ehrenamtliche Helferin kritisch: »Es muss von den Menschen selbst kommen.«
Info
Tafel-Ausgaben im Kreis Gießen