»Viele neue Gesichter«

Preise für Energie und Lebensmittel steigen. Die Teuerungsrate ist so hoch wie seit 50 Jahren nicht mehr. Und so mancher muss beim Einkauf von Kleidung, Hausrat oder Möbeln mittlerweile auf Gebrauchtes ausweichen. Nachgefragt in Secondhand-Läden im Kreisgebiet.
Es ist heiß an diesem späten Mittwochnachmittag. Freibadwetter. Vor der Kleiderstube Wäschek(l)ammer in Großen-Linden wartet eine Handvoll Menschen. Und zum Glück macht Rosi Kirchhöfer zehn Minuten früher auf. Der Sturm auf die Kleiderständer und Regale beginnt. Schnell füllen sich die Taschen. Eine der Frauen kommt regelmäßig, die anderen vier Damen und Herren sind Neukunden. Das kommt oft vor in den vergangenen Monaten. Offenbar sind immer mehr Menschen auf Angebote wie das der evangelischen Peterskirche angewiesen.
»Wir sehen in letzter Zeit viele neue Gesichter«, sagt Martina Stöhr, federführende Kraft in der Kleiderstube. Zudem merken sie und die anderen 15 Ehrenamtlichen seit Anfang des Jahres, »dass viel mehr Ware rausgeht. Wir können ständig neue Sachen annehmen«, berichtet Stöhr. Außerdem habe sich die Klientel geändert. Besuchten früher überwiegend ausländische Mitbürger die Wäschek(l)ammer, gehörten mittlerweile auch immer mehr deutsche Familien zu den Kunden. Mütter berichteten ihr, dass sie sich die Kleidung für ihre Kinder nicht mehr »first hand« leisten könnten. Stöhr: »Das hat es früher nur vereinzelt gegeben.«
Von einem Zuwachs an Neukunden, die wenig Geld zur Verfügung hätten, berichtet auch Heiko Krause, Pressesprecher des DRK Mittelhessen, für den von diesem betriebenen Kleiderladen in Lollar. »In den letzten Wochen etwa 15 Prozent mehr«, so Krause.
Angesichts stark steigender Energie- und Lebensmittelpreise verwundert diese Entwicklung nicht. Das Statistische Bundesamt ermittelte im Mai eine Teuerungsrate von 7,9 Prozent - der höchste Wert seit 50 Jahren. So mancher muss da mittlerweile offenbar genau überlegen, ob er sich Kleidung, Hausrat oder gar Möbel leisten kann. Öffentlich sagen, dass der Weg deshalb ins Sozialkaufhaus oder die Kleiderkammer führt, möchte das aber kaum jemand.
Eine Stammkundin berichtet, dass sie vor einigen Jahren arbeitslos war und in dieser Zeit auf das Angebot der Kirchengemeinde aufmerksam wurde. »Seitdem komme ich hierher«, so die Großen-Lindenerin. Auch wenn sie jetzt wieder einen Job habe, verfüge sie nicht über viel Geld. »Ich sehe es auch nicht mehr ein, mehr Geld auszugeben als nötig.«
In der Kleiderstube gibt es gut Erhaltenes für kleines Geld. Für T-Shirt oder Shorts zahlt man in der Wäschek(l)ammer 1 Euro, für lange Hosen und Oberteile, Röcke oder Kleider 1,50. Eher eine kleine Spende als ein angemessener Preis.
Ortswechsel: Knapp 20 Kilometer entfernt in einem ehemaligen Firmengebäude in Lollar. Hier, in der Richard-Wagner-Straße, befindet sich die Bunte Halle - ein von fünf Ehrenamtlichen geführtes Sozialkaufhaus.
Wie in Großen-Linden sind die Preise im Laden niedrig, der Anteil an zum Verkauf stehendem Hausrat, Spielsachen oder Kleinmöbeln aber wesentlich größer. Die meisten Kundinnen, die an diesem Nachmittag einkaufen, sind den beiden diensthabenden Damen bekannt.
»Wir haben viele Stammkunden«, berichten Sylvia Müller und Christine Hofmann. Menschen mit wenig Geld, aber auch solche, denen Nachhaltigkeit wichtig ist. Eine Frau aus Staufenberg gehört zu dieser Sorte Kundin: »Ich finde es schade, wenn gut erhaltene Sachen weggeworfen werden. Deshalb komme ich schon seit Jahren her.«
Die inflatorische Situation scheint sich in der Bunten Halle noch nicht auszuwirken. Eine Veränderung bei ihrem Klientel oder im Umsatz haben die beiden Ehrenamtlichen bisher nicht beobachtet. Gleiches berichten die Verantwortlichen der Kleiderkammern Reiskirchen und Lich, Veronika Nikisch und Simone Albrecht sowie Andrea Krüger vom Secondhand-Laden Allerhand in Hungen, der ehrenamtlich vom Verein Bürger für Bürger betrieben wird.
Warum das in Großen-Linden anders ist? Vielleicht aufgrund der Lage am Ortsrand, denn häufig ist der Gang ins Sozialkaufhaus oder die Kleiderkammer mit Hemmungen verbunden, wie mehrere Ehrenamtliche berichten.
Veronika Nikisch ist sich aber sicher, »dass das noch kommt«. Ebenso wie Simone Albrecht: »Wenn die Schere noch weiter auseinandergeht, wird sich das ändern.«
In der Wäschek(l)ammer in Großen-Linden ist es mittlerweile etwas ruhiger geworden. Die Ersten haben bezahlt. Neue Ware von Spendern wurde entgegengenommen, geprüft, sortiert und für den Verkauf fertig gemacht. Denn die nächsten Kunden kommen bestimmt.