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Verzweiflung, Stolz und Hoffnung: Paar bangt um Familie in der Ukraine

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Von: Jonas Wissner

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Boris und Natalia Saizew leben in Treis. Doch in Gedanken sind sie zurzeit in der Ukraine, wo Verwandte um ihr Leben und ihr Land fürchten. © Jonas Wissner

Für ein Paar aus dem Kreis Gießen ist an ein normales Leben nicht zu denken. Sie bangen um Verwandte in der Ukraine und berichten, wie sich in der Familie Gräben auftun.

Staufenberg – Wut, Trauer, Hilflosigkeit« - so beschreibt Boris Saizew seine Gefühlslage. Wenn er sich morgens einen Tee mache, wisse er ungefähr, was der Arbeitstag bringe, sagt der 30-jährige Treiser. »Und unsere Verwandten sitzen in einem Keller in Kiew und wissen nicht, was kommt. Es könnte für sie der letzte Lebenstag sein.«

Er und seine Frau Natalia haben 2013 geheiratet, er hatte sie bei einem Urlaub in der Ukraine kennengelernt. Es ist ihre Heimat - und zum Teil auch die seiner Familie. Saizews Mutter stammt aus Russland, der Vater aus Kasachstan. Seine Schwester ist in der Ukraine geboren, er in Deutschland. Im Moment aber ist für das Paar klar: Ihre Solidarität kann nur der Ukraine gelten, und ihre Sorge den Verwandten, die dort leben.

Paar aus dem Kreis Gießen bangt um Verwandte in der Ukraine

Natalia Saizews Schwester wohnt, wie auch andere Verwandte, mit ihrer Familie in Kiew. »Ich habe meine Schwester gebeten, hierher zu kommen.« Doch sie wolle bleiben. Die 33-Jährige bangt auch um eine Cousine, die Krebs habe und Diabetikerin sei, nun nicht an Medikamente komme. Das Paar zählt Verwandte auf, die es gern nach Deutschland holen würde. »Wir haben hier genug Platz«, sagt er.

Die Eltern seiner Frau leben etwa 150 Kilometer entfernt von Kiew. Sie sind seit Januar zu Besuch in Treis, am 27. Februar wollten sie wieder gen Heimat fliegen. Jetzt herrscht dort Krieg. »Wir haben jeden Tag die Diskussion: Fahren sie zurück oder nicht?«, sagt Boris Saizew. »Mein Schwiegervater sagt, er fühle sich wie ein Verräter, weil er hier ist.« Für Natalia Saizew ist die Vorstellung, dass ihre Eltern wieder aufbrechen könnten, kaum zu ertragen.

Krieg in der Ukraine: Kinder sollen rausgehalten werden

Das junge Paar hat drei Kinder. Sie lachen, toben herum, lassen sich ihr Eis schmecken, wirken unbeschwert. Wie erklären die Eltern ihnen, was gerade in der Ukraine passiert? »Wir halten die Kinder eigentlich raus - sie wissen nicht wirklich, was los ist«, sagt ihr Vater. Doch ganz gelingt das nicht: Kürzlich sei eine Tochter in der Schule gefragt worden: »Warum macht die Ukraine mit den USA Krieg gegen Russland?«

Der Mutter des Kindes, von dem die Frage kam, habe er ein Gespräch angeboten, sagt Saizew, doch es sei nicht zustande gekommen. »Ich bitte Russlanddeutsche, die prorussisch sind, die Proukrainischen einfach in Ruhe zu lassen«. sagt er. Für einen Dialog sind es schwierige Zeiten.

Der 30-Jährige wundert sich: Manche »Russlanddeutsche« stünden hinter Putin, »auch wenn sie noch nie in Russland waren«. Er fragt: »Wie kann es sein, dass jemand in einem NATO-Land aufwächst, hier Meinungsfreiheit genießt - dann aber prorussisch ist?«

Krieg in der Ukraine reißt Gräben bei Familien im Kreis Gießen auf

Auch innerhalb der Familie und im Freundeskreis tun sich Gräben auf. Das habe sich schon nach der Annexion der Krim 2014 gezeigt, nun umso mehr. Einer seiner Cousins habe ihn im Streit um die Politik von seiner Hochzeit ausgeladen, sagt Saizew.

Seine Frau ergänzt: »Ich habe von einer russischen Freundin gehört: ›Was macht ihr da? Warum bombardieren die Ukrainer sich selbst?‹« Noch immer scheint die russische Propaganda ohne kritische Stimmen freier Medien teils zu verfangen - auch wenn sie noch so absurd klingt. Doch den Saizews ist wichtig, die russische Bevölkerung nicht über einen Kamm zu scheren, wie sie verdeutlicht: »Eine russische Freundin hat gesagt: ›Es tut mir Leid!‹ Aber sie kann ja nichts dafür. Wir wollen keinen Krieg und hassen keine Russen.«

Alle paar Minuten meldet sich Saizews Handy. Bekannte wollen spenden, wenden sich an ihn. Er verbucht alles in einer Excel-Liste, alles soll transparent sein. Nachdem er bei einer Soli-Demo in Gießen am Dienstag das Wort ergriffen hatte, haben ihn viele angesprochen. Er will sich auf konkrete Hilfe für den Wohnort seiner Schwiegereltern, Tetijiw, konzentrieren.

Krieg in der Ukraine ist auch im Kreis Gießen greifbar

Es klingelt. Saizew nimmt ein Paket entgegen, es enthält Walkie-Talkies. Die seien jetzt besonders wichtig, sagt er und zeigt eine Karte mit dem Wohnort der Schwiegereltern. »Es gibt dort mehrere Zufahrtsstraßen, sie bereiten sich auf eine Invasion vor.« Damit verschiedene Posten miteinander kommunizieren können, brauche es die Geräte. »Jeden Tag gehen dort die Sirenen, die Krankenhäuser sind schon voll von Verwundeten«, sagt seine Frau. Der Krieg ist greifbar.

Ihr Mann wirbt dafür, direkt über Menschen zu spenden, die Kontakte in die Ukraine haben - sie wüssten, woran es am meisten mangle. Zurzeit würden statt Kleidung eher Medizinprodukte gebraucht, sagt er. »Jeder kann seinen Verbandskasten im Auto überprüfen.« Sei der abgelaufen, könne er in der Ukraine durchaus Verwendung finden.

Trotz militärischer Überlegenheit Russlands und massiver Angriffe, auch auf Wohnhäuser, scheint die Invasion zu stocken. Die Menschen in der Ukraine rücken zusammen, stemmen sich mit aller Kraft gegen die Aggression. Sind die Saizews stolz darauf? »Oh ja!«, sagt er. »Es ist wie David gegen Goliath, damit machen sich die Menschen Mut.« In der Ukraine kursiere nun ein Witz: Die NATO könne ja den Antrag stellen, der Ukraine beizutreten.

Paar aus Kreis Gießen hofft auf russisches Volk

Ein Einlenken der Angegriffenen könnte den Krieg wohl verkürzen. Doch was käme dann? Er wäre froh, wenn es »Alternativen zum Kämpfen« gäbe, sagt Saizew. »Aber unter den Bedingungen, die Putin stellt - die Anerkennung der Krim-Annexion und der ›Volksrepubliken‹ im Osten, die Demilitarisierung der Ukraine - kann man nur kämpfen.« Es sei wichtig, dass die Welt diesen Kampf unterstütze, um ein klares Signal zu setzen - »wer weiß, was sonst China als Nächstes mit Taiwan macht«.

Gibt es etwas, das ihm zurzeit Hoffnung bringt? »Ich hoffe, dass die Moral der Russen bricht, dass das russische Volk aufsteht.« Und dafür sieht er erste Zeichen.

Für Boris Saizew steht fest: »Im Krieg gibt es nur Verlierer. Jeder Mensch, der stirbt, ist einer zu viel. Ob Russe oder Ukrainer.« (Jonas Wissner)

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