Unterkünfte zu 90 Prozent belegt

Rund 2000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind im Kreisgebiet inzwischen angekommen, die 27 Gemeinschaftsunterkünfte stoßen an die Grenzen der Kapazität. Für Entlastung sorgt eine Welle der Hilfsbereitschaft vieler Menschen im Kreis.
Bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine gewinnt im Kreis Gießen die Unterbringung in Privatwohnungen zunehmend an Bedeutung. Die 27 Gemeinschaftsunterkünfte in den Städten und Gemeinden im Gießener Land seien zu 90 Prozent belegt, berichtet Achim Szauter, Leiter des Fachdiensts Migration in der Kreisverwaltung.
Szauter berichtet von mehr als 1900 Flüchtlingen aus der Ukraine, die seit Beginn des Angriffskriegs Russlands am 24. Februar im Kreis aufgenommen und versorgt worden sind. Szauter spricht von 950 Bedarfsgemeinschaften. Größtenteils handle es sich um Frauen mit Kindern, gleichzeitig beobachte man eine beträchtliche Zahl von Auslandsstudenten aus der Ukraine unter den Flüchtlingen. Szauter räumt ein, dass man in den Gemeinschaftsunterkünften an die Grenzen der Kapazität stoße. 90 Prozent Belegung bedeute, dass die Einrichtungen weitgehend ausgelastet sind. 100 Prozent seien kaum zu erreichen, weil darauf geachtet werde, dass Familien unter sich sein können und beispielsweise Mütter mit zwei Kindern in Vierbettzimmern ohne weitere Geflüchtete untergebracht seien.
Die Suche nach geeigneten Liegenschaften für weitere Unterkünfte »fällt uns schwer«, gesteht Szauter. Dies habe unter anderem mit bürokatischen Hürden zu tun, eine Abnahme durch die Bauaufsicht sei erforderlich, Auflagen beim Brandschutz seien zu beachten. Vor allem aber, betont der Fachdienstleiter, »kommen wir angesichts der Masse an Menschen, die im Kreis ankommt, nicht mehr nach«.
Für Entlastung sorgt unterdessen eine Welle der Hilfsbereitschaft in den Kreiskommunen. So stellen Menschen im Gießener Land aktuell 1600 bis 1700 Wohnungen zur Verfügung. »Das ist erfreulich«, sagt Szauter, um anschließend einen »traurigen Hinweis«, wie er anmerkt, nachzureichen: So gut wie keine Bereitschaft gebe es unter den Menschen im Kreis, Flüchtlinge aus anderen Kriegsgebieten wie beispielsweise aus Syrien oder aus Afghanistan, Iran oder Irak privat aufzunehmen. Die große Zahl an Auslandsstudenten aus der Ukraine komme daher privat eher nicht unter.
Jeden Donnerstag, zumeist am späten Nachmittag, werden Flüchtlinge aus der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Unterkünften im Kreis untergebracht. Aktuell sind es laut Szauter zwischen 130 und 200 Flüchtlingen. Meist finde dies ab 16, 17 Uhr statt, hin und wieder erst am späteren Abend, wodurch man improvisieren müsse. Vor diesem Hintergrund wird unter anderem die Stadt Pohlheim aushelfen. Ein leerstehendes Gebäude in Watzenborn-Steinberg in der Ludwigstraße soll als Zwischenunterkunft die Möglichkeit für kurzfristige Übernachtungen geben. »Wir müssen die Räume noch herrichten«, berichtet Pohlheims Bürgermeister Andreas Ruck. In drei Wochen werde das Haus bereitstehen.
Szauter gab am Montag einen Einblick in die Situation während einer Versammlung von Menschen, die ehrenamtlich helfen wollen, in Dorf-Güll. Dabei kam er auch auf eine offenbar niedrige Impfbereitschaft zum Schutz vor Corona unter den Geflüchteten aus der Ukraine zu sprechen. Nur 35 Prozent der ukrainischen Bevölkerung sind gegen das Coronavirus geimpft - die meisten unter ihnen mit dem russischen Vakzin Sputnik V, das in Deutschland weder zugelassen noch anerkannt ist.
»Alle, die hier ankommen, erhalten ein Impfangebot«, betont Szauter. Allerdings werde darauf eher dürftig zurückgegriffen, eine hohe Skepsis gegenüber einer Schutzimpfung sei zu beobachten. »Wir müssen sehr viel Aufklärungsarbeit leisten. Das ist unglücklich.« Die Flüchtlinge würden nach der Ankunft in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen und donnerstags, bevor sie in den Kommunen untergebracht werden, getestet. Bisher habe man sieben Corona-Fälle festgestellt. Die Infizierten werden in speziellen Gemeinschaftsunterkünften mit Quarantäneräumen untergebracht.
Die Frage der Impfbereitschaft hat eine hohe Bedeutung für Familien, die Flüchtlinge aufnehmen wollen und bei denen beispielsweise auch ältere und vulnerable Menschen leben. Unter den Teilnehmern der Versammlung in Dorf-Güll kam die Frage auf, wie damit umzugehen ist. »Sie können eine Impfung nicht erzwingen«, sagte Pohlheims Bürgermeister. »Aber kann ich eine Impfung als Bedingung nennen, um Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen?«, fragte eine Frau. »Natürlich«, antwortete Ruck.
Derzeit beschäftige man sich damit, Geflüchteten bei der Einrichtung von Bankkonten zu helfen, berichtet Szauter. Viele Ältere hätten nur handgeschriebene Ausweisdokumente, diese werden hier nicht anerkannt. Auf Skepsis stieß bei der Versammlung am Montag indes das Vorhaben, das ehrenamtliche Engagement in den Kommunen maßgeblich über die Gemeinwesenarbeit zu koordinieren. Es gehe darum, Chaos zu vermeiden, dies sei eine Erkenntnis aus der Flüchtlingswelle 2015, sagte Szauter. Pohlheims Bürgermeister räumte ein, dass die Verwaltung angesichts der Corona-Krise bisweilen schwer erreichbar sei. In Pohlheim wolle man vor allem mittwochs für Fragen von Ehrenamtlichen, die Flüchtlingen aus der Ukraine helfen wollen, bereitstehen.
In den Wortmeldungen in Dorf-Güll wurde derweil deutlich, dass die Ehrenamtlichen unter anderem in WhatsApp-Gruppen längst vernetzt sind und Hilfe untereinander koordinieren. Die Vertreterin der Gemeinwesenarbeit für Pohlheim und Linden fehlte aus gesundheitlichen Gründen.
Berichte zur Situation der Flüchtlinge aus der Ukraine in der Stadt Gießen auf Seite 19.