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Kunstfliegen in Gießen: Und plötzlich steht der Himmel Kopf

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Von: Stefan Schaal

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Zwischen Freiheit und Adrenalin: Bei Gießen fliegt Wolfgang Seitz seine Kunststücke.
»Natürlich gab es auch mal Zeiten, in denen ich mir mehr zugetraut habe«, in denen er sich an Figuren etwas näher am Boden probiert hat, erzählt Wolfgang Seitz. »Das hat sich aber mit den Jahren einnivellliert. Ich will ja auch abends gemütlich beim Bierchen sitzen.« SYMBOL © Thomas Frey/dpa

Wolfgang Seitz fliegt seit 38 Jahren durch die Luft bei Gießen. Was macht Kunstfliegen für ihn so interessant? Wir haben nachgefragt: Das Porträt eines Fliegers.

Pohlheim - Manchmal wirkt der 65 Jahre alte Wolfgang Seitz schon sehr abgehoben. Wenn er beispielsweise in 1000 Metern Höhe über Pohlheim im Segelflugzeug sitzt, Loopings zeigt, senkrecht nach oben steigt und für einen kurzen Moment die Schwerelosigkeit spürt. In gut zwei Wochen wird er an den Pohlheimer Flugtagen teilnehmen.

Stille. Wolfgang Seitz steigt senkrecht nach oben. Hinter seinem Rücken liegt in 1000 Metern Entfernung der Boden, Watzenborn-Steinberg. Das Segelflugzeug wird, während es steigt, immer langsamer. Irgendwann steht es beinahe in der Luft, für einen Augenblick setzt ein Gefühl von Schwerelosigkeit ein. Dann justiert Seitz das Seitenruder, steuert mit dem Querruder entgegen - und vollzieht eine Drehung um 180 Grad. Plötzlich geht es senkrecht nach unten, immer schneller.

Himmel bei Gießen: Seitz sitzt seit 1984 im Cockpit

Es ist eine der schwierigsten Figuren im Kunstflug, die der 65 Jahre alte Seitz vollzieht: der sogenannte Turn. Einige Segelflieger brauchen Jahre, bis sie den Turn im Griff haben, auch aufgrund der enormen Spannweite des Flugzeugs. Seitz beherrscht die Einlage durch jahrzehntelange Erfahrung. 10.000 Mal ist er bereits in die Luft abgehoben, Kunstflieger ist er seit 1984. „Die Koordination, die dreidimensionale Erfahrung, das treibt mich an“ sagt der Aktive der Segelfliegergruppe Steinkopf Pohlheim. „Es ist pure Geilheit.“

Seine Künste werden am 9. und 10. Juli zu bewundern sein, wenn der Verein am Pohlheimer Segelflugplatz das 60-jährige Jubiläum feiert. Seitz wird dann im Rahmen des Programms - wie weitere Kunstflieger - Loopings zeigen. Er wird im Kreis fliegen und sich dabei um die eigene Längsachse drehen. Nach einer halben Rolle wird er das Flugzeug auf dem Rücken fliegen. Und der Himmel steht Kopf.

Video: Kampfflieger mit Kunstflug in der Schweiz

Es gehe bei den Einlagen darum, die richtige Geschwindigkeit zu finden. Für den passenden Winkel sei vor allem das Augenmaß wichtig, neben der Erfahrung. »Und ich muss natürlich auch an das Publikum denken, dass die Leute die Figuren sehen.«

In der Nähe von Gießen: Wolfgang Seitz zeigt Kunstflüge
Wolfgang Seitz zeigt Kunstflüge. © Stefan Schaal

Gerade bei Turns und Kurvenflügen kommen allerdings auch G-Kräfte zur Geltung. Positive G-Kräfte spüren Piloten beispielsweise beim Innenlooping, wenn sie in den Sitz gedrückt werden. Dabei kann das Blut von der Körpermitte in die Beine gedrückt. Negative G-Kräfte wirken nach unten und heben den Piloten aus dem Sitz. Es komme beim Kunstflug auch mal zur positiven Belastung von 5 G und zu negativen Werten von 2 G, „wenn man von der Senkrechten in die Waagerechte übergeht“, räumt Seitz ein. Diese Kräfte, sagt sein Kollege Frank Bender von der Pohlheimer Segelfliegergruppe, wirken aber nur für einen sehr kurzen Augenblick, damit komme man zurecht. „Wenn ein Kampfjet mit 800 Sachen eine 45-Grad-Kurve fliegt, spürt der Pilot das 30 Sekunden lang. Auch wenn er einen Schutzanzug trägt, ist das eine ganz andere Hausnummer.“

Gießen: Aufgrund der Höhe sinkt die Gefahr

Gefährlich sei der Segelkunstflug nicht, betont Seitz, auch aufgrund der Sicherheitshöhe. „Da müsste man schon grobe Fehler begehen, dass etwas passiert.“ In den knapp vier Jahrzehnten als Segelkunstflieger habe er nie einen Unfall gehabt, sagt er. „Natürlich gab es auch mal Zeiten, in denen ich mir mehr zugetraut habe“, in denen er sich an Figuren etwas näher am Boden probiert hat. „Das hat sich aber mit den Jahren einnivellliert“, erzählt er. „Ich will ja auch abends gemütlich beim Bierchen sitzen.“

Geselligkeit spielt bei den Pohlheimer Segelfliegern durchaus eine Rolle. Sie bilden neben einer Gruppe in Wieseck einen der rührigsten Vereine in der Sportart im Kreisgebiet. 50 Aktive bringen sich in Pohlheim ein. Der Verein lädt regelmäßig Schulklassen ein, um Kindern und Jugendlichen das Segelfliegen zu zeigen. Derzeit sucht der Verein nach einem neuen Ultraleichtflugzeug. Auch ein weiterer Doppelsitzer ist angedacht.

Kunstflug bei Gießen: Es ist eine Sportart in der Sportart

Den Kunstflug beschreibt Seitz als „Sportart innerhalb der Sportart des Segelfliegens“. Voraussetzungen seien Disziplin, Genauigkeit und vor allem Konzentration. „Wenn ich die Lage gegenüber dem Horizont, den Winkel und die Geschwindigkeit reguliere, dann ist es ein Konzentrationssport.“

Auch an einer Weltmeisterschaft hat er teilgenommen. 1995, beim Turnier in Fayence am Rand der südlichen Voralpen. Platz 43 hat er damals erreicht, bei 65 Teilnehmern. „Ich war stolz“, erzählt Seitz. „Wir haben alles selbst finanziert. Sportler aus anderen Nationen dagegen hatten finanzkräftige Sponsoren hinter sich, bei den Russen waren außerdem professionelle Piloten und ein Astronaut unter den Teilnehmern.“

Einmal im Jahr, in der ersten Woche der Sommerferien, bildet er in Schwalmstadt Segelflieger im Kunstflug aus. Da merke er durchaus, dass die Sportart anstrengend sein kann, gesteht Seitz. „Wenn ich an einem Tag achtmal einen Rückenflug mit Schülern eingeübt habe, fühle ich mich danach leer. Da fallen mir abends um halb zehn die Augen zu.“ Die Müdigkeit entstehe aber nicht durch Muskelarbeit, körperliche Belastung und sei auch nicht kreislaufbedingt. „Es ist die Konzentration.“ (Stefan Schaal)

Zuletzt flog ein Mann aus Hessen auf das Siegertreppchen bei der Europameisterschaft der Segelflieger.

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