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Um ein Haar eine Mülldeponie

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Von: Patrick Dehnhardt

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pad_stein2_230422_4c © Patrick Dehnhardt

Es ist eine atemberaubende Kulisse, die sich beim Blick über den Oberkleener Steinbruch bietet. Um ein Haar wäre dieser unter Bergen von Bauschutt und Hausmüll begraben worden. Eine Bürgerinitiative verhindert dies. Derzeit sucht die Gemeinde Langgöns ein Konzept, wie sich Naturschutz und eine Freizeitnutzung miteinander vereinbaren lassen.

In der Tiefe schimmert in flacheren Bereichen das Wasser türkis, in der Mitte in dunklem blau. Riesige Fische nehmen an der Oberfläche ein Sonnenbad, wenn sie nicht gerade in bis zu 30 Meter Wassertiefe abtauchen. Die steilen Felswände erheben sich wie ein Kliff zig Dutzende Meter hoch, oben klammern sich Sträucher und Bäume mit ihren Wurzeln an der Abbruchkante fest und geben dieser einen zweifelhaften Halt. Dahinter leuchten die Rapsfelder und grünen Wiesen des Kleebachtals, in der Ferne sind der Magnapark und die Burgen des Gleiberger Lands zu erkennen.

Der Steinbruch Oberkleen lockt Erholungssuchende und Tiere gleichermaßen an. Der Uhu wohnt in der Felswand. Die Geschichte des Steinbruchs beginnt allerdings vor rund 350 Millionen Jahren, als Oberkleen noch in Nähe des Äquators lag. Damals bildeten sich die Kalkablagerungen. Unter dem Druck anderer Gesteinsmassen wurde aus ihnen Kalkstein geformt, der schließlich an vielen Stellen im Kleebachtal an die Oberfläche kam. »Diese Kalkfelsen sind gut erhaltene Zeugen und Relikte einer weit zurückliegenden Zeit in dieser Region«, sagt Martin Hanika. Der Oberkleener hat zig Felsen aus dem Bruch vermauert, dabei auch immer wieder Fossilien entdeckt. »Das habe ich selbst manchmal gar nicht so wertgeschätzt, wie es dieser Stein eigentlich verdient.«

Ab wann in Oberkleen Kalkstein abgebaut wurde, ist unklar. Alle Spuren verschwanden durch den Abbau, ebenso eine 1834 entdeckte Tropfsteinhöhle. Hanika vermutet, dass die Dorfbewohner das Material schon recht früh für den Haus- und Scheunenbau verwendeten.

Der große kommerzielle Abbau begann im April 1910 und fällt mit der Eröffnung der Bahnstrecke Butzbach-Oberkleen zusammen. So ließ sich das Gestein leicht abtransportieren. Die Gemeinde stimmte dem Tagebau gerne zu, und dies nicht nur wegen der Abgabe, die auf jede abgebaute Tonne Gestein anfiel. »Es gab Ende des 19. Jahrhunderts nicht genug Arbeit für die ländliche Bevölkerung«, sagt Hanika. Wenige Jahre zuvor war ein Zehntel der Bevölkerung Oberkleens nach Russland und Amerika ausgewandert. Der Steinbruch sorgte für einen Wendepunkt. Mit ihm kam auch weiterverarbeitende Industrie ins Kleebachtal. Vor Ort stellte etwa ein Unternehmen aus dem Material Treppenstufen und Fensterbänke her, noch heute gibt es in Oberkleen ungewöhnlich viel Industriebetriebe für ein Dorf dieser Größe.

Der Kalkstein war begehrt. Er wurde als Block und Schotter im Hausbau und beim Straßen- und Wegebau verwendet - unter anderem beim Bau der Autobahn 45. Gemahlener Kalk wurde zu Löschkalk weiterverarbeitet, der bei der Mörtelzubereitung benötigt wird. Das Kalksteinmehl wurde zudem in der Friedberger Zuckerfabrik und der Zellstoffindustrie gebraucht.

Um den Kalk über die hohe Kante des Steinbruchs zu transportieren, wurde eine geschickte Lösung ersonnen: Die Lore, die von der Bergkante hinab zur Verladestation am Bahnhof rollte, zog dabei mit ihrem Gewicht über eine Seilverbindung eine Lore aus dem Tagebau hinauf. Seit den 1970er Jahren ist dies aber Geschichte.

Das Grundwasser drückte immer mehr in den Krater hinein, die Kosten für das Abpumpen machten den Steinbruchbetrieb unwirtschaftlich. Das Wasser hatte allerdings eine so hohe Qualität, dass die Feuerwehr es im Dürresommer 1976 in die Orte pumpte, als das Trinkwassernetz zusammengebrochen war.

Trotzdem entschied die Gemeinde, den Steinbruch als Mülldeponie zu nutzen und zuzuschütten. »Es war für mich eine grässliche Vorstellung, dass Bauschutt in den See gekippt werden sollte«, sagt Hanika. Er und viele andere sahen das Grundwasser in Gefahr. Eine Bürgerinitiative wurde gegründet - und konnte sich durchsetzen: Die Gemeinde nahm ihren Entschluss zurück. Stattdessen pachteten eine Tauchsportgruppe und der frisch gegründete Angelverein das Areal. »Die Vereinssatzung ist bei mir am Küchentisch geschrieben worden«, sagt Gründungsmitglied Hanika.

So ein Steinbruch ist kein Kinderspielplatz - weder zu Betriebszeiten noch heute. Immer wieder kam es in der Abbauzeit zu Unfällen. Hanikas Opa arbeitete als Sprengmeister im Bruch. Als dieser einmal in der Steilwand eine Sprengung vorbereitete, löste sich oberhalb Geröll und brach ihm das Bein.

Aber erst nach der Stilllegung kam es zu Unglücken. Zweimal stürzten Menschen beim Klettern in der Felswand in den Tod, immer wieder mussten Feuerwehr und Bergwacht Unvernünftige retten, die teils in Badelatschen in der Wand umherkletterten und sich verstiegen. Dabei droht permanent ein Steinschlag in der Felswand, immer wieder lösen sich kleine und größere Brocken.

Ein tragischer Unfall ereignete sich im Februar 2006, als zwei Männer beim Eistauchen in 27 Metern Tiefe ums Leben kamen. Als eine der Ursache nannten Experten später eine mangelhafte Ausrüstung.

In den letzten Jahren gab es keine Unglücksfälle mehr. Jedoch leidet das Areal, das zum Naturpark Taunus gehört, zunehmend unter Erholungssuchenden. An vielen Stellen sind die Sicherheitszäune niedergetrampelt. Auf der Liegewiese an der Westseite des Sees fliegt nach einem Wochenende meist viel Müll umher.

Die Gemeinde Langgöns will die Menschen aus dem Areal nicht aussperren und denkt über Alternativen nach, die Naturschutz und sanften Tourismus vereinen. So wurden im Rahmen des Intergrierten Kommunalen Entwicklungskonzepts etwa Ideen für ein Café oder ein Kiosk am Steinbruch entwickelt. »Dadurch würde das Areal unter einer gewissen sozialen Kontrolle stehen«, sagt Hanika. Sowohl Tier als auch Mensch sollen den See weiterhin als Rückzugs- und Erholungsort genießen können.

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pad_stein1_230422_4c © Patrick Dehnhardt
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pad_stein3_230422_4c © Patrick Dehnhardt

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