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Immer mehr totgefahrene Tiere – Freizeitdruck als Ursache für „dramatische“ Lage?

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Von: Rüdiger Soßdorf

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Zwei tote Rehe an der Krofdorfer Umgehung. © pv

Mehr als die Hälfte aller toten Rehe im Krofdorfer Forst sind in den vergangenen zwölf Monaten nicht der Flinte zum Opfer gefallen, sondern wurden totgefahren. »Dramatisch«, sagt Jäger Rainer Hospes. Er macht den Freizeitdruck im Wald dafür verantwortlich.

Wettenberg – Über 100 überfahrene Rehe in der Gemarkung Krofdorf (Landkreis Gießen) in den vergangenen beiden Jahren. Hinzu kommen Füchse, Waschbären, Hasen, Kaninchen. »Ich ertrage es bald nicht mehr«, grämt sich Rainer Hospes, einer der Jagdpächter aus Krofdorf-Gleiberg.

Hospes steht fassungslos an der Umgehungsstraße. Vor ihm liegen zwei tote Rehe, Ricke und Kitz wurden gleichzeitig in der Morgendämmerung überfahren. Die von dem Autofahrer herbeigerufene Polizei konnte eines der Tiere noch mit einem Schuss erlösen. Hospes blieb die traurige Aufgabe, die toten Tiere zu beseitigen. »Aber es kann doch nicht sein, dass unser Job vornehmlich ist, Wild von der Straße zu kratzen«, sagt er frustriert.

Landkreis Gießen: Immer mehr tote Rehe rund um Krofdorf

Zwischen März und Mai 2020 wurden 17 totgefahrene Rehe rund um Krofdorf gezählt. Schon vor einem guten Jahr eine hohe Zahl. Nun aber eine neue Dimension: Für das zurückliegende Jahr werden rund um Krofdorf-Gleiberg 73 tote Rehe bilanziert - davon sind mehr als die Hälfte, nämlich 41, im Straßenverkehr umgekommen - eine bislang nie da gewesene Zahl.

»Ich bin wahrlich nicht zart besaitet«, sagt der Försterssohn und Tierarzt. Seit bald 45 Jahren geht er mittlerweile auf die Jagd. Aber das aktuelle Tierleid geht ihm unter die Haut. Drei Schwerpunkte sind es im Revier Krofdorf, an denen die Tiere beim Queren der Straßen unter die Räder kommen: Die Umgehung Richtung Fellingshausen, die Chaussee zwischen Krofdorf und Wißmar sowie - und das ist neu - die Waldhausstraße.

Woher kommt diese drastische Steigerung? Das rühre keinesfalls daher, dass es so viele Rehe gebe, macht der Jagdpächter deutlich. Vielmehr sei der Druck im Wald zu groß. Jogger, Wanderer und Spaziergänger, teilweise mit frei laufenden Hunden, Geocacher, Pilzsucher, Mountainbiker, Endurofahrer, Reiter - und zwar quasi zu jeder Tages- und Nachtzeit. Hinzukommen noch Zeitgenossen wie jener Mann, der während der Brunft regelmäßig in der Dämmerung die Waldhausstraße auf- und abfährt, um Hirsche zu fotografieren. Das alles sorgt für immense Unruhe, unter der die Tiere leiden.

Landkreis Gießen: Besucherstrom im Krofdorfer Frost wird zum Problem

Das scheue Wild wittert Störung über mehrere Hundert Meter und flieht verschreckt - lange bevor der Biker oder Spaziergänger das Tier überhaupt bemerkt. Die Tiere kennen es, wenn die Menschen auf den Wegen unterwegs sind - aber abseits davon, in den Dickungen und Unterständen, die ihnen als Rückzugsraum dienen, dürfen sie eben nicht in Unruhe versetzt werden.

Welches Ausmaß die Störungen annehmen, das verdeutlichen Zahlen: 231 Besucher, die in den Krofdorfer Forst gingen oder fuhren, wurden binnen drei Stunden an einem normalen Samstagmorgen gezählt. 59 Geocaching-Punkte sind dem Jagdpächter im Forst bekannt - aber womöglich sind es noch mehr. Laut Logbüchern werden die zwischen 40- und 120-mal im Jahr aufgesucht. Das addiert sich ganz schnell allein auf rund 5000 Geocaching-Besuche im Jahr auf - oder 12 bis 13 täglich.

Oliver Keßler, Sprecher des Regierungspräsidiums Gießen, hat dieser Tage erst die Klagen bestätigt: Die Menschen sind überall unterwegs - immer wieder auch querfeldein über Wiesen mit Picknick an allen möglichen Stellen und in den Wäldern abseits der Wege.

Auch die Staatliche Forstverwaltung registriert die steigende Zahl von Waldbesuchern im ganzen Land. Auslöser sei sicherlich die Corona-Pandemie gewesen, wird Pressesprecherin Michelle Sundermann zitiert. Und es sei gut möglich, dass die Besucherzahlen nicht wesentlich zurückgingen.

Landkreis Gießen: Revier Krofdorf wird zu „überlaufenem Freizeit- und Sportgelände“

Jäger Hospes formuliert es noch drastischer: »Das Revier hat sich innerhalb von zwei Jahren rasant von einem zwar stadtnahen, aber immer noch einigermaßen intakten Naturraum zu einem völlig überlaufenen Freizeit- und Sportgelände gewandelt. Und zwar auf Kosten der Natur, der Wildtiere und damit auch der Jagd.« »Dramatisch« nannte er die Situation dieser Tage erst in seinem Bericht vor der Jagdgenossenschaftsversammlung in Krofdorf-Gleiberg.

Ein Kernproblem macht er in der unterschiedlichen Interessenlage der Waldnutzer aus; dies im Verbund mit zunehmendem Egoismus und vor allem Unkenntnis der Zusammenhänge in der Natur. Was die Alten noch wussten: Nach der Dämmerung gehört der Wald den Tieren. Das sei vielfach vergessen gegangen.

Was also tun? Aufklären, informieren - und gegebenenfalls auch Besucherlenkung, Kontrolle sowie als Ultima Ratio Sanktionen. Die Idee eines Runden Tisches, um die unterschiedlichen Interessen zusammenzuführen, ist da und soll umgesetzt werden. Der Ansatz dahinter: Wie nutze ich den Wald, ohne Schaden anzurichten? Wem nutze oder schade ich womit? »Es geht mir nicht um Verbote«, sagt Hospes, »sondern um Verständnis.«

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