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Superfood am Wegesrand

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Von: Ursula Sommerlad

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Um Brennnesseln machen viele Leute einen großen Bogen. Zu Unrecht. Zwei Kräuterfrauen aus Hungen rücken die Vorzüge dieser Heilpflanze ins rechte Licht. Sie ist gesund, sie ist lecker. Und man kann sie sogar anfassen, wenn man weiß, wie es geht.

Beherzt greift Ana Farago-Macht in die Brennnesseln und lacht. »Das tut nicht weh«, sagt sie. »Man muss nur wissen, wie man sie anfasst.«

Farago-Macht weiß es. Sie ist Kräuterfrau. Gemeinsam mit Renate Hecht bildet sie das Duo »Kraut und Kochen«. Seit rund sechs Jahren bieten die beiden Hungenerinnen zwischen Frühjahr und Herbst Kräuterwanderungen an. Je nach Jahreszeit wählen sie einen anderen Schwerpunkt aus. Bei der nächsten Veranstaltung am 24. September geht es um die Brennnessel. Sie ist die Heilpflanze des Jahres 2022.

Wegen der schmerzhaften Quaddeln, die sie auf der Haut verursacht, hat die Pflanze bei vielen einen schlechten Ruf. Völlig zu unrecht, wie die beiden Kräuterfrauen finden. Die Brennnessel wirkt entwässernd und reinigend, sie fördert die Sauerstoffsättigung des Bluts und kann Rheuma lindern. Außerdem enthält sie wertvolle Mineralstoffe und viel pflanzliches Eiweiß. Und das Beste: Brennnesseln sind das ganze Jahr über in Hülle und Fülle verfügbar. Die ersten zarten Blätter sprießen gleich nach dem Frost. »Früher war Brennnesselspinat gang und gäbe«, weiß Renate Hecht. Ehe in den Hausgärten das erste Gemüse erntereif war, bedienten sich die Menschen an den Schätzen der Natur.

Ihre Naturverbundenheit hat die beiden Frauen zusammengeführt. Ihre Wege kreuzten sich auf dem Hungener Erlebnishof und in der Natur- und Kräuterschule Lumdatal. Irgendwann war da die Idee, die Leidenschaft für Wildkräuter, aber auch fürs Kochen und Essen, mit anderen zu teilen. Hecht hatte zunächst alleine angefangen, Farago-Macht stieß später dazu. Die versierte Köchin tüftelt die raffinierten Rezepte aus, die im Anschluss an die Kräuterspaziergänge im Naturschutzzentrum in Trais-Horloff gemeinsam zubereitet und verzehrt werden. Ein schönes Erlebnis für alle, aber auch Mittel zum Zweck. »Es ist ein ganz anderes Lernen, wenn man die gesammelten Kräuter hinterher verarbeitet«, sagt Renate Hecht. »Das gibt den Impuls, die Kräuter auch im Alltag anzuwenden.«

Bevor es ans Kochen geht, lernen die Teilnehmenden die jeweiligen Wild- und Heilkräuter, ihre Wirkung und ihre Anwendungsgebiete, auf einem etwa eineinhalbstündigen Spaziergang kennen. Die Horloff, der Kalte Rain bei Steinheim oder der Wingertsberg bei Trais sind bevorzugte Ziele. »Weit kommen wir meistens nicht«, schränkt Hecht ein. Zuviel gibt es unterwegs zu sehen, zu fühlen, zu riechen, zu kosten und zu besprechen.

So geht es den beiden Kräuterfrauen übrigens auch, wenn sie selbst Pflanzen sammeln. »Wenn ich nur mal kurz was pflücken will, dauert das mindestens eine Stunde«, sagt Farago-Macht. Langsamkeit und Behutsamkeit sind ihr wichtig. »Der Sammelstelle sollte man hinterher nicht ansehen, dass man drin war.«

Diese Achtsamkeit empfehlen die Kräuterfrauen auch den Teilnehmenden auf ihren Exkursionen. Sie sollen nur soviel sammeln, was sie direkt verbrauchen können. Und für später legen sie ihnen zwei dringende Ratschläge ans Herz: Sie sollen nur die Pflanzen sammeln, die sie sicher erkennen. Und auch, wenn sie um die Heilkraft von Wildkräutern wissen: Wer sich krank fühlt, soll bitte zum Arzt gehen.

Seit dem Start von »Kraut und Kochen« vor etwa sechs Jahren haben Farago-Macht und Hecht ein wachsenden Interesse an Wildkräutern ausgemacht. Das Spektrum der Anmeldungen sei größer geworden, erzählen sie. Jüngere Leute, so zwischen 20 und 40, kommen als Neueinsteiger, Interessenten im Rentenalter entwickeln Neugier für ihr Umfeld. Außerdem gebe es die Kochbegeisterten, die über ihre kulinarischen Interessen einen Zugang zu dem Thema finden. Sie folgen dabei einem Trend. »Auch Sterneköche gehen in die wilde Küche«, weiß Farago-Macht.

Für das Menü am 24. September hat sie schon einige Ideen. Ein Brennnessel-Eis soll es geben und Konfekt mit Brennnessel-Samen. »Die schmecken wunderbar nussig«, lobt Renate Hecht. Sie hat immer ein Schälchen davon neben ihrem Herd stehen und streut sie über das fertige Essen.

Die Saison bei »Kraut und Kochen« dauert von Frühjahr bis Herbst. »Im Winter haben die Pflanzen Pause und wir auch«, sagt Farago-Macht. Das stimmt nicht ganz. Wenn die Natur ruht, schmieden die beiden Kräuterfrauen ihre Pläne für das kommende Jahr. Schöner Zufall: Als sie letzten Winter die Brennnessel ins Visier nahmen, wussten sie noch nicht, dass dieses alltägliche Kraut als Heilpflanze des Jahres 2022 ausgewählt werden würde.

Die Sache mit dem Anfassen ist übrigens gar nicht so schwer. Die Brennnessel piekst, weil ihre feinen Härchen bei Berührung brechen und eine Flüssigkeit absondern, die die Haut reizt. Wenn man die Pflanze aber fest bei den Stängeln packt und die Bewegung von unten nach oben in Wuchsrichtung führt, bleiben die Härchen intakt.

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