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Murmel als Mahnmal

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Von: Volker Heller

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Zeitzeuge Karl Friedrich Zecher (r.) übergibt Bürgermeister Peter Gefeller die über 80 Jahre alte Glasmurmel. © Volker Heller

Staufenberg (vh). Harmloses Kinderspielzeug, eine Glasmurmel und ein Puppenwagen, erinnerten am Internationalen Holocaust-Gedenktag (27. Januar) an die brutale und mitleidlose Aktion in Mainzlar vom 14. September 1942. Vor dem Wohnhaus in der Bahnhofsraße 13 (heute Daubringer Straße) hielt ein Fahrzeug. Karl Friedrich Zecher (Jahrgang 1936), damals ein Nachbar, erinnert sich:

»Es war ein kleiner Lkw mit Gepäck darauf«. In dem Gebäude, das wohl Ende der 1890er Jahre gebaut wurde, lebten Mitglieder der Familie Rosenthal. Es gab außerdem einen Garten und einen Stall mit Ziegen, »Im Dorf sprach man vom Judenhäuschen«, so Zecher.

An diesem Septembertag waren auch Ursula Gigler (Jahrgang 1937) und ihre Mutter unterwegs in der Bahnhofstraße. Gigler erinnert sich an einen Puppenwagen, der auf dem Bürgersteig scheinbar herrenlos herum gestanden habe. Zecher beobachtete, wie jene Glasmurmel vom Wagen herunter sprang. Jemand sagte zu ihm, »du kannst sie aufheben«. Die kleine, weitgehend durchsichtige und nur leicht eingefärbte Glasmurmel war für ihn wie ein kostbarer Schatz. Die Dorfkinder spielten bis dahin nur mit selbst gebrannten Lehmkügelchen. Zecher: »Wir haben den Lehm im Herd gebrannt, dann mit Farbe bepinselt. Wenn es draußen nass war, ging die Farbe leicht wieder ab«. Deshalb sei diese Murmel für ihn so wertvoll gewesen. Wahrscheinlich habe er noch nicht einmal damit gespielt, sie einfach nur aufbewahrt. Insgesamt neun Personen nahm der Lkw damals mit. Es waren die verbliebenen jüdischen Bürger aus Mainzlar. Alter und Geschlecht war der Geheimen Staatspolizei egal. Bertl Nathan hatte eben erst das Licht der Welt erblickt (geboren am 4. September) und Zilla Karbe nur ein Jahr in Mainzlar verbringen können (geboren am 20. August 1941). Stadtarchivarin Barbara Wagner weiß, »die Hausnummer 13 wurde dann versiegelt, über das Finanzamt versteigert und verkauft«. Gigler und Zecher waren nicht die einzigen Zeugen dieser Aktion bei der jüdische Bürger eingesammelt wurden wie heutzutage der Müll. Sie wurden alle in den einschlägigen Vernichtungslagern ermordet.

Bürgermeister Peter Gefeller erläutert, man habe bewusst den Holocaust-Gedenktag abgewartet, um diese Glasmurmel nun an das Stadtarchiv zu übergeben. Am 27. Januar 1945 hatten Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreit. »Ein Kind, das nicht wusste, wie ihm geschah. Es hat sich wohl maßlos über die verlorene Murmel geärgert«, so Gefeller. Demokratie fliege einem nicht zu. »Die fängt hier vor Ort an«. Darum sollten Gedenktage ein »ewiges Mahnmal bleiben«. Damals hätten ein paar wenige Leute entschieden, wie alle anderen zu leben hätten. Man sei in der Pflicht, die nächste Generation daraufhin zu weisen. CDU-Stadtverordneter Jannis Gigler (Enkel von Ursula Gigler) gab zu bedenken, »was machen wir wenn es in vielleicht zehn Jahren keine Zeitzeugen mehr gibt«.

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