Erfahrung und Mahnung zugleich

Staufenberg (vh). Sie hat schon ein Zimmer in Berlin und präsentierte jetzt - ausgerechnet an ihrem Geburtstag - ihrem Arbeitgeber Staufenberg ihrerseits ein großes Geschenk. Stadtarchivarin Barbara Wagner steht kurz vor dem Ruhestand. Sie hat eine Herzensangelegenheit noch rechtzeitig fertiggestellt. Es ist die schriftliche Dokumentation »Juden in Staufenberg - Stolpersteine« (für 10 Euro erhältlich im Rathaus).
Die öffentliche Buchvorstellung am Mittwoch im voll besetzten »Wohnzimmer« des Kulturcafé in Daubringen zählte zu den Gedenkveranstaltungen »Reichspogromnacht 9. November 1938«.
Für Bürgermeister Peter Gefeller signalisierte der vollbesetzte Raum »großes Interesse an einem nach wie vor schwierigen Thema«. Stadtarchivarin Wagner habe viel dafür getan. Dabei vergaß Gefeller nicht, die Verdienste von Lokalhistoriker Volker Hess (Daubringen) zu erwähnen. Wagner ihrerseits benannte diesbezüglich später auch den Lokalhistoriker Hanno Müller (Fernwald).
In seiner namentlichen Begrüßung nannte Gefeller die Eheleute Hocke (sie haben Kontakt mit Irvin Krebs, dieser wurde am 27. April 1923 in Treis geboren, die Familie flüchtete 1938 in die USA), Gisela Schmiedel, Karl-Friedrich Zecher (Zeitzeuge der Deportation jüdischer Bürger von 1942), die Enkelin (aus Mainz) von Johanna »Hannchen« Becker geb. Ziegelstein (sie wohnte in Treis) und Andrej Keller, Direktor der Clemens-Brentano-Europaschule (CBES).
Künstler Gunter Demnig, der seit 1996 die »Stolpersteine« verlegt, sei am 27. Oktober 75 Jahre alt geworden. Manchmal verlege er die Gedenkplättchen noch selber. Wagner berichtete, sie habe ihn letztens in Berlin getroffen. Unterdessen ist das Kunstprojekt »Stolpersteine« in eine Stiftung umgewandelt worden.
Demnigs Gedenksteine, die er 2011 und 2012 in Staufenberg unter Beteiligung von Schülern der CBES auf den Bürgersteigen einließ, erinnerten an die »Opfer der NS-Terrorherrschaft«. Alle 1942 verschleppten jüdischen Bürger seien ermordet worden. In Staufenberg gedenke man auch der nicht jüdischen Opfer wie Heinrich Geißler, dem in der Vorstadt 28 ein Stolperstein gewidmet ist. Laut NS-Ideologie war Geißler »nicht lebenswert« und verstarb durch Unterversorgung in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Gießen.
Weil die Zeitzeugen weniger würden, sei der Kontakt zu ihren Nachfahren besonders wichtig, unterstrich der Bürgermeister. Achtung und Respekt vor dem Anderen, das gelte immerfort. Gefeller: »Die Würde des Menschen gehört zur Basis einer Demokratie.«
Er halte es für wichtig, die nächste Generation in das Erinnern einzubinden, sagte der Bürgermeister. Er erwähnte nochmals die Beteiligung der CBES mit der damaligen Direktorin Dr. Barbara Himmelsbach. Die Stolpersteine nennt Gefeller »ein dezentrales Mahnmal«. Dessen Betrachter solle gedanklich ins Stolpern geraten. Die Stadt Gießen habe schon ein Buch über »ihre« Stolpersteine herausgegeben, nun folge Staufenberg. Er dankte der in Lich ansässigen Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung für die Übernahme der Druckkosten.
Barbara Wagner brachte in einem kurzweiligen Vortrag allgemeine Auskünfte über Demnigs Projekt, die Synagoge von Treis (Hauptstraße 65, erbaut 1829, in den 40er Jahren abgebrochen), das Verdrängen statt Erinnern (bis in die 80er Jahre). Kritik an den Stolpersteinen habe Charlotte Knobloch (ehemals Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland) geäußert, ebenso die Interessenverbände der Sinti und Roma. Von den Nachfahren der ermordeten Juden habe sie noch kein negatives Wort darüber gehört, sagte Wagner.
Das Buch ist der zweite Band zu der kürzlich erschienenen Publikation von Hanno Müller, »Juden in Staufenberg - Familien« (die GAZ berichtete). Dieser erste Band zeigt die tiefe Verwurzelung der jüdischen Bevölkerung in unserer Region und das Ende durch Deportation und Ermordung oder Vertreibung und Flucht.
FOTOS: PM, ARCHIV

