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Angebliche Pflegefirma-Mitarbeiter bedrängen Frau aus Pohlheim monatelang 

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Von: Stefan Schaal

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Doris Zeiß aus Pohlheim (Kreis Gießen) bekommt immer wieder Anrufe von Betrügern. Zehntausende wurden schon Opfer der „Deutschen Pflegeallianz“-Masche.

Gießen/Pohlheim - Auf den ersten Blick erscheint der Brief, den Doris Zeiß aus Pohlheim (Kreis Gießen) in ihren Händen hält, seriös. Auch der Name des Absenders wirkt vertrauenerweckend: die »Deutsche Pflegeallianz«, die sich im Schreiben als »Leistungserbringer der Pflegekassen« ausgibt. Dahinter steckt allerdings eine Masche. »Viele, gerade Senioren, denken, die Menschheit wäre ehrlich«, sagt die 82 Jahre alte Zeiß, »ich glaube auch zu viel.«

Nach Schätzungen von Experten haben in den vergangenen Monaten bundesweit Zehntausende Menschen derartige Offerten der Deutschen Pflegeallianz angenommen, berichtet die Süddeutsche Zeitung. Sie haben ein Bestellformular, das dem Brief beiliegt, zurückgeschickt und Pflegehilfsmittel wie saugende Bettschutzeinlagen, Handschuhe und Flächendesinfektionsmittel geordert. »Zuzahlungsfrei und versandkostenfrei«, wie es in dem Brief heißt. Dabei haben sie allerdings auch Auskünfte zu sensiblen Sozialdaten angegeben wie ihre finanziellen Verhältnisse, ihre Versichertennummer und ihren Pflegegrad, die in dem Formular abgefragt werden.

Kreis Gießen: Frau aus Pohlheim wird mit Anrufern bedrängt

Die Verbraucherzentrale Hessen warnt seit Oktober vergangenen Jahres vor einer derartigen Masche. Der finanzielle Schaden der Betroffenen hält sich vermutlich in Grenzen. Das Vorgehen zielt offenbar vor allem auf Datenraub ab. Besonders ärgerlich sei, dass wohl der Eindruck erweckt werden soll, »als erfolge die Abwicklung der Bestellung in Absprache mit der eigenen Pflegekasse«, sagt Peter Lassek, Rechtsanwalt bei der Verbraucherzentrale Hessen. In den Bestellformularen werden wohlgemerkt keine Preise angegeben. »Betroffene schließen also einen Kaufvertrag ab, ohne den genauen Inhalt überblicken zu können.«

Böse sei sie geworden, »als die Frau am Telefon nach meinem Mann gefragt hat«, sagt Doris Zeiß. Dieser ist vor mehr als 20 Jahren gestorben.
Böse sei sie geworden, »als die Frau am Telefon nach meinem Mann gefragt hat«, sagt Doris Zeiß. Dieser ist vor mehr als 20 Jahren gestorben. © Stefan Schaal

Die Seniorin Zeiß wurde stutzig, als nach dem Brief im September vergangenen Jahres Anrufe hinzukamen, die bis heute anhalten. »Die drängen mich, bei ihnen zu bestellen«, erzählt die Frau aus dem Kreis Gießen. Dass in dem Bestellformular keine Preise aufgeführt sind, ordnet sie als unseriös ein. »Das kann nur unehrlich sein.«

Pohlheim (Kreis Gießen): Pflegeallianz schreibt an 20 Jahre verstorbenen Mann

Zeiß fragt sich vor allem, wie die BSS Deutsche Pflegeallianz GmbH, ein Privatunternehmen mit Sitz in Hamburg, an ihre Adresse in Pohlheim gekommen sein könnte. »Und woher wissen die, dass ich Pflegehilfsmittel benötige?« Böse sei sie allerdings geworden, »als die Frau am Telefon nach meinem Mann gefragt hat«. Dieser ist vor mehr als 20 Jahren gestorben. Auch der Brief ist an ihn adressiert. »Das ist verletzend«, sagt Zeiß. Vermutlich habe die Pflegeallianz in Telefonbüchern gestöbert, wo ihr Mann noch aufgeführt ist, vermutet sie.

Derartige unseriöse Methoden sowie auffällige und »äußerst penetrante Anrufe« im Namen der Deutschen Pflegeallianz seien der AOK Hessen durch Berichte von Versicherten seit vergangenem Jahr bekannt, erklärt Stephan Gill, ein Sprecher der Krankenkasse. Die Firma habe den Betroffenen mitgeteilt, »dass sie im Auftrag der AOK anrufe«. Ziel der Anrufe sei die Bewerbung und der Abschluss von Verträgen für Pflegehilfsmittel. »In den meisten Fällen war allerdings überhaupt nicht klar, woher das Unternehmen die entsprechenden persönlichen Daten hatte.«

Trickbetrug nimmt im Raum Gießen überhand

Wie der Gießener Polizeisprecher Jörg Reinemer berichtet, nehmen Trickbetrügereien derzeit regelrecht überhand. »Über alle möglichen Kanäle«, fügt er hinzu. Täter geben sich als Enkel, Söhne oder Töchter mit einer neuen Handynummer aus, gratulieren zu einem angeblichen Glücksspielgewinn oder erklären, sie seien Microsoft-Mitarbeiter.

Falsche Polizeibeamte haben vergangene Woche bei einer Seniorin in Linden 32 000 Euro erbeutet. Die Polizei rät, in solchen Fällen auf die Forderungen nicht einzugehen, Gespräche zu beenden und die 110 zu wählen. »Ich warte förmlich darauf«, dass sich am Telefon mal jemand als meine Enkelin ausgibt«, sagt Zeiß. »Die Person würde ich richtig reinlegen.«

Dass es weiterhin derartige Anrufe gebe, sei irritierend, betont Gill. Denn die Verträge mit der Deutschen Pflegeallianz seien aufgrund der berichteten Aktivitäten im September 2021 durch den Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung zum Jahresende 2021 gekündigt worden. »Insofern ist eine Abrechnung von Pflegehilfsmitteln über die Gesetzliche Krankenversicherung gar nicht mehr möglich.«

Pohlheim (Kreis Gießen): Niemand zu erreichen bei der Deutschen Pflegeallianz

Unter einer Telefonnummer, die auf dem Schreiben an Zeiß vermerkt ist, war am Montag (02. Mai) bei der Deutschen Pflegeallianz niemand zu erreichen. Auf seiner Internetseite warnt das Unternehmen indes vor »fingierten Anrufen« von Menschen, die sich als Mitarbeiter der Pflegeallianz ausgeben: »In Wahrheit handelt es sich um versteckte Werbeanrufe oder gar um versuchten Datenraub. Dieses Vorgehen ist kriminell.«

Ob die Warnung ernsthaft motiviert ist, daran gibt es zumindest Zweifel - steht doch die Deutsche Pflegeallianz selbst laut Verbraucherschützern im Verdacht, Senioren über den Tisch zu ziehen und Pflege- und Krankenkassen zu betrügen. Die AOK Niedersachsen hat vor diesem Hintergrund Strafanzeige gestellt, wie deren Sprecher Johannes-Daniel Engelmann bestätigt.

Kreis Gießen: Mutmaßliche Betrügereien sorgen für Ernüchterung in Pohlheim

Zeiß sitzt in ihrem Wohnzimmer in Pohlheim, Vogelgezwitscher dringt durch die Terrassentür, an den Wänden hängen Fotos von Ponys der Rasse New Forest, die auf ihrem Grundstück einst lebten. Sie liest nochmal den Brief. »Ältere Leute werden so reingelegt«, sagt sie. »Gott sei Dank kann ich noch ein bisschen denken. Aber was ist mit denen, die nicht mehr klarkommen?« (Stefan Schaal)

Es gibt nicht nur diesen Beispielfall aus dem Kreis Gießen. Auch die Zahlen sind eindeutig: Mit betrügerischen Telefonmaschen aller Couleur erbeuteten Kriminelle in Hessen 2021 über 21 Millionen Euro.

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