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Trotz Erblindung: Wie ein Pohlheimer Künstler Skulpturen schafft

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Von: Stefan Schaal

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Zur Kunst habe er vor der Erblindung keinen Bezug gehabt, gesteht Achim Kraft. Allerdings zum Handwerk durch seinen früheren Beruf. Und zum Holz. © Stefan Schaal

Der 53 Jahre alte Achim Kraft erschafft Kunstwerke aus Holz, die er selbst nie sehen wird. Der Grüninger ist nahezu blind. Seine Werke, die er ertastend, schleifend, mit Feile oder Motorsäge in der Hand erstellt, werden von einer befreundeten Ingenieurin zu Lampen umgewandelt. Er lasse sich von seiner Erblindung nicht unterkriegen, sagt Kraft. »Es liegt mir in der Natur, immer wieder auf die Beine zu kommen.

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Dunkelheit. Leere. Das Gefühl von Hilflosigkeit. Vor den Augen ist alles schwarz wie Lakritze. Achim Kraft hat dem Besucher an seiner Haustür in Grüningen eine Schlafbrille überreicht. In diesem Moment gilt es, sich auf das Gehör und vor allem auf den Tastsinn zu verlassen.

Der 53 Jahre alte Künstler bietet an, die Hand auf seine Schulter zu legen. Langsam, Schritt für Schritt, führt er durch seine Flure und Räume. Und so zieht im Schneckentempo eine eigentümliche Karawane durch das Haus. Von rechts grüßt irgendwann Krafts Frau mit freundlicher Stimme. »Soll ich ein Foto machen?«, fragt sie. Besser nicht. Plötzlich klingt, wie ein Blitz in der Dunkelheit, ein sanftes glockenhelles Läuten auf. Kraft ist gegen eine Vase gestoßen. »Die steht doch schon immer da«, sagt seine Frau.

Erblindeter Künstler: Arbeiten mit der Motorsäger

Dann bleibt der Künstler stehen. Er führt die Hand des Besuchers an einen Gegenstand an der Wand. Die Oberfläche ist rau, es ist Holz, einzelne glatte Stellen lassen sich ertasten. »Es ist ein Tier«, gibt Kraft einen Tipp. So gewöhnt, so sehr angewiesen ist man auf den Sinn des Sehens, dass es mehrere Sekunden dauert, bis überhaupt Formen wahrnehmbar werden. Oben ist das Holz gespalten, zwei schmale Flächen ragen nebeneinander in die Höhe. Und dann macht es Klick. Es ist ein Schnabel. Der Gegenstand aus Holz stellt einen Vogel dar. Einen Eisvogel, der aus dem Wasser nach oben schießt.

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Achim Kraft und sein Eisvogel. © Stefan Schaal

Der Pohlheimer Künstler hat die Skulptur erschaffen. Er hat daran in seiner Werkstatt gefeilt, geschliffen, hat mit einer Motorsäge gearbeitet. Seine Kunst ist außergewöhnlich. Kraft ist erblindet. Er formt Kunstwerke, die er selbst nie sehen wird.

»Am liebsten arbeite ich in meiner Werkstatt allein«, sagt er. »Wenn ich dann ein Holzstück in den Händen halte, bin ich komplett fokussiert und stelle mir vor, wie es aussehen könnte, welchen Namen es tragen könnte.«

Aus meinem Leben vor der Erblindung ist kein Mensch mehr in meinem Umfeld.

Achim Kraft

Durch die Erblindung brauche er für jeden Schritt etwas länger als Sehende, sagt Kraft. »Manchmal setze ich mich vorher ins Büro und plane, was ich in der Werksttt mache, ob ich zum Beispiel ein Brett auf Gerung schneide oder mit der Oberfräse abrunde.« Es befriedige ihn, Kunstwerke zu erschaffen. »Den Eisvogel gebe ich nicht mehr her.«

24 Jahre liegt es inzwischen zurück, als Krafts Sehvermögen rapide schwindet. Eine Diabetes-Erkrankung ist die Ursache. Kraft verliert innerhalb von zwei Jahren weitgehend sein Augenlicht. Er muss seinen Arbeitsplatz als Garten- und Landschaftsgestalter aufgeben, Freunde ziehen sich zurück. »Aus meinem Leben vor der Erblindung ist kein Mensch mehr in meinem Umfeld«, sagt Kraft. Seine Frau lernt er 2012 auf einem Hundeseminar kennen.

Erblindeter Künstler: Ein Geschenk als Initialzündung

Heute könne er nur noch zwischen hellen und dunklen Tönen unterscheiden, berichtet er, eine spezielle Brille mit orangefarbenen Gläsern hilft ihm dabei. »Teilweise fehlt mir die Selbständigkeit«, erzählt Kraft. In vielen Situationen sei er abhängig von anderen und stoße auf fehlende Sensibilität. Als Kraft 2014 einmal mit seinem Blindenhund in der Gaststätte »Bolero« in Gießen am Berliner Platz mit der Begründung abgewiesen wird, Hunde seien drinnen nicht erwünscht, wendet er sich an diese Zeitung, der Fall schlägt damals hohe Wellen. Er lasse sich nicht unterkriegen, sagt Kraft. Würde er sich von so manchen Situationen herunterziehen lassen, »kriegt das am Ende meine Frau zu spüren, das bringt uns allen nichts.« Der Pohlheimer fügt hinzu: »Es liegt mir in der Natur, immer wieder auf die Beine zu kommen.«

Im November vergangenen Jahres hat Kraft die Kunst für sich entdeckt. Er habe zum Geburtstag eine Lampe aus Birkenholz geschenkt bekommen. »Es waren zwei Äste, hinten war im Holz eine LED-Lampe eingeschlitzt.« Das Geschenk habe 320 Euro gekostet, habe er erfahren. »Ich habe mir gedacht: Das kann ich auch.«

Zur Kunst habe er vor der Erblindung keinen Bezug gehabt, gesteht der Pohlheimer. Allerdings zum Handwerk durch seinen früheren Beruf. Und zum Holz. »Weil ich nicht blind geboren bin, habe ich den Vorteil, dass ich mir bekannte Formen bildlich vorstellen kann«, sagt er. Eine befreundete Ingenieurin wandelt seine Kunstwerke in Lampen um, die ein sanftes Licht an die Wand strahlen.

Vor der Motorsäge habe ich Respekt. Aber man muss sich Dinge zutrauen.

Achim Kraft

Die Skulpturen, die in Krafts Haus stehen, sind aus Apfel- und Eichenholz geformt. »Ich arbeite aber auch mit Erle, Ahorn und Kastanie«, erzählt er. Ein Bekannter aus Grüningen liefere ihm das Holz. »Ich sage ihm, dass ich gerne Holz mit Charakter habe, das verknorzt ist oder abstehende Äste hat.« Kraft ergänzt: »Wenn es zu gerade ist, nehme ich ein Spaltbeil, haue einfach mal ein bis zwei Teile ab und schaue, was sich ergibt.«

Ja, räumt Kraft ein, er arbeite mit Äxten und auch mit Motorsägen. Angst habe er dabei nicht, auch aufgrund seiner früheren beruflichen Tätigkeit mit solchen Werkzeugen. »Aber Respekt. Weil ich weiß, dass es gefährlich ist.« Doch man müsse sich etwas zutrauen, ist der Pohlheimer überzeugt. » Und Vertrauen in sich haben. Ich zerkleinere ja auch Brennholz für den Kamin.« Dann hebt Kraft seine Arme und sagt »Bisher ist noch alles dran.« In der Ruhe liegt die Kraft, heißt es sprichwörtlich. Wer den Grüninger kennenlernt, stellt fest: In Kraft liegt die Ruhe.

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