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Hebammenmangel in Hessen – im dritten Monat ist es für die Suche zu spät

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Von: Stefan Schaal

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Die vier Hebammen Nicole Becker, Michelle Rinker, Nele Weber und Jasmin Jung (v. l.). Ab Juni bieten sie eine Wochenbettambulanz an.
Die vier Hebammen Nicole Becker, Michelle Rinker, Nele Weber und Jasmin Jung (v. l.). Ab Juni bieten sie eine Wochenbettambulanz an. © Stefan Schaal

Der Mangel an Hebammen in Hessen ist dramatisch – auch im Kreis Gießen. Nicole Becker und ihre Kolleginnen in Garbenteich ziehen daher klare Grenzen.

Kreis Gießen/Garbenteich – Jasmin Jungs Telefon klingelt, die 37 Jahre alte Hebamme hebt ab. Ihr Schwangerschaftstest sei positiv, erzählt eine Frau. Sie will bei der Hebamme in Garbenteich sofort einen Platz zur Betreuung reservieren. Jung erzählt später: »Die Frau war noch nicht mal beim Gynäkologen, da ruft sie bei uns an.«

Familien melden sich in der Hebammenpraxis in Pohlheim auch zu noch früheren Zeitpunkten, berichtet Jungs Kollegin Nicole Becker. »Frauen fragen mich, wann ich Urlaub habe, damit sie ihre Schwangerschaft entsprechend planen.« Beginnen Familien erst im dritten oder vierten Monat der Schwangerschaft mit der Suche nach einer Hebamme, ist es oft zu spät. Der Mangel an Hebammen ist dramatisch, auch im Kreis Gießen.

Vor allem seit die Haftpflichtprämien für die freiberuflichen Geburtshelferinnen stark gestiegen sind, geben immer mehr ihren Beruf auf oder arbeiten nur noch in Teilzeit. Der Verein »Mother Hood« spricht zum Start der Sommerferien für Schwangere regelmäßig eine Reisewarnung insbesondere für Hessen aus - wegen überlasteter Geburtsstationen und des Mangels an Hebammen. Der Bundesverband der Hebammen hat eine Deutschlandkarte veröffentlicht, um aufzuzeigen, was in den einzelnen Regionen besonders fehlt: Die Karte macht auf eine Unterversorgung im Kreis Gießen vor allem in der Wochenbettbetreuung aufmerksam.

Kreis Gießen: Hebammenmangel in Hessen lässt Familien verzweifelt zurück

Becker winkt ab. »Ach, hier fehlt doch alles«, sagt die seit 22 Jahren tätige Hebamme, die ihre Praxis in Garbenteich mit drei Kolleginnen teilt. Der Mangel führt dazu, dass Familien immer häufiger verzweifelt und bisweilen erfolglos nach einer Begleitung und Betreuung während und nach der Schwangerschaft suchen, obwohl jede gesetzlich krankenversicherte Frau zwölf Wochen lang Anspruch auf die Unterstützung hat. Folgenreich ist die Situation auch für die wenigen Hebammen, die mit Anfragen regelrecht überhäuft werden. Die Gefahr, in Arbeit zu ertrinken, ist groß. »Wir betreuen die Frauen, die bei uns sind, so gut wie wir können«, erklärt Becker. »Wir werden aber nicht im Akkord arbeiten.« Es würden bundesweit durchaus ausreichend Hebammen ausgebildet, sagt sie. Doch die Arbeitsbedingungen sorgen dafür, dass viele bald wieder aufgeben. »Die Politik kriegt es nicht gebacken.«

Becker, Jung und zwei Kolleginnen sitzen an einem Tisch in ihrer Hebammenpraxis. Sie stellen ihr neues, ab 1. Juni existierendes Angebot vor: eine Wochenbettambulanz. Mütter können einen Termin vereinbaren und für 20, 30 Minuten vorbeikommen. Sie können Fragen stellen und ihre Gesundheit sowie die des Kindes überprüfen lassen.

Die Wochenbettambulanz richtet sich auch an Familien, die keine Hebamme mehr gefunden haben. Sie ist zudem eine Reaktion auf die hohe Nachfrage nach Hebammen. »Wir hoffen, dass wir den Bedarf etwas abfedern können«, sagt Becker. »Wir wollen Ansprechpartner sein, wenn etwas nicht läuft«, fügt Nele Weber hinzu. Eine Frau habe sich mal wegen Schmerzen nach der Geburt in der Praxis gemeldet. »Sie hat zu Hause nur Schmerzabletten genommen.« Es habe sich herausgestellt, dass sich in der Gebärmutter noch Gewebereste befunden haben. »Ohne eine Hebamme wäre die Frau aufgeschmissen gewesen.«

Hebammen in Garbenteich bis Dezember ausgebucht: Wichtig, klare Grenzen zu ziehen

Die Hebammen in Garbenteich betreuen 20 Frauen pro Monat vom Anfang der Schwangerschaft bis zum Ende der Stillzeit. »Wir sind bis Dezember ausgebucht, was die Wochenbettbetreuung angeht«, sagt Becker. Im Gespräch erzählen sie Anekdoten, brechen immer wieder in Lachen aus - und machen deutlich, wie sehr sie ihren Beruf lieben. Sie weisen indes darauf hin, wie wichtig es im Kontakt mit den Familien geworden ist, klare Grenzen zu ziehen. Geburten selbst begleiten sie nicht mehr, berichtet Becker. Aufgrund der Haftplichtversicherung in Höhe von rund 11 000 Euro, die sie jährlich zahlen müssten. Und wegen des Stresses. »Ich habe 15 Jahre lang Geburten begleitet«, erzählt Becker. »Das macht einen wahnsinnig. Mann kann nicht mal in Ruhe ein Radler trinken oder eine Bratwurst essen. Ständig hat man im Hinterkopf, dass man vielleicht noch weg muss.«

»Wir betreuen die Frauen, die bei uns sind, so gut wie wir können«, sagt die Pohlheimer Hebamme Nicole Becker. »Wir werden aber nicht im Akkord arbeiten.«
»Wir betreuen die Frauen, die bei uns sind, so gut wie wir können«, sagt die Pohlheimer Hebamme Nicole Becker. »Wir werden aber nicht im Akkord arbeiten.« © dpa/Symbolbild

Sie hätten eben auch selbst Familien, sagt die dreifache Mutter Jung. »An den ersten 14 Tagen nach der Geburt bin ich auch am Wochenende erreichbar. Nach 14 Tagen endet das.« Sonntags mache sie keine Hausbesuche mehr. »Da kann passieren, was will.«

Familien seien in den vergangenen Jahren anspruchsvoller geworden, erzählt sie. »Sie leben zunehmend ohne ihre Großeltern in der Nähe, die im Notfall einspringen könnten.« Die Unsicherheit bei jungen Eltern sei zunehmend größer, beobachtet Weber. In vielen Fällen gehe es darum, Verantwortung auf die Hebammen abzuwälzen. »Viele wollen ständig Kommunikation in Echtzeit«, sagt Becker.

Früher seien Mütter nach einem Kaiserschnitt zehn bis zwölf Tage im Krankenhaus geblieben, berichtet Becker, die zu Beginn der 90er Jahre als Hebamme angefangen hat. »Seitdem die Krankenhäuser eine Pauschale erhalten, schicken sie die Frauen 48 Stunden nach der Geburt nach Hause.« Die Betreuung für einzelne Frauen durch Hebammen sei länger und ausführlicher geworden. Freude am Beruf habe sie weiterhin. Doch die Politik sei gefragt, Leistungen der Hebammen höher zu dotieren. Durch die schlechte Bezahlung, die abenteuerlichen Versicherungssummen und die hohen Anforderungen auch aufgrund des Mangels an Fachkräften sei der Beruf der Hebamme, so betont Becker, »nicht familienfreundlich«. (Stefan Schaal)

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