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»Scharnier« für Demokratie

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Von: Stefan Schaal

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Bei Menschen mit gefestigtem extremistischen Weltbild sei es schwierig, die Einstellung zu verändern, betont Nele Fritzsche (M.), die mit Nadya Homsi (l.) und Julia Erb (r.) zusammenarbeitet. © Stefan Schaal

Seit einem knappen Jahr verstärkt Nele Fritzsche die Fachstelle des Landkreises für Demokratie und Toleranz. Sie und ihre Kolleginnen berichten von mittlerweile »salonfähigen« Hassreden in politischen Diskursen und von einer Zunahme gemeldeter rassistischer Vorfälle an Schulen. Wie wollen sie selbst zu mehr Demokratie und Toleranz beitragen?

Ein Lehrer spricht im Unterricht ein Flüchtlingskind an. »Du kannst ja froh sein, dass du hier bist«, sagt er.

Vor dem Gießener Mathematikum ist eines Morgens ein Absperrband aufgezogen, auf dem Boden sind wie an einem Tatort die Umrisse eines Körpers gezeichnet, »Multi-Kulti tötet«, steht auf Flyern von Neonazis.

In Lich taucht im März vergangenen Jahres während der Proteste gegen das Logistikzentrum eine antisemitische Karikatur auf, sie zeigt Marionetten mit schwarzen Mänteln, Hüten und Rauschebärten.

Demokratiefeindlichkeit, Diskriminierung und Rassismus im Kreis haben viele hässliche Gesichter. Auf entsprechend vielfältige Weise gehen Julia Erb, Nadya Homsi und Nele Fritzsche mit derartigen Vorfällen und Erscheinungsformen um. Die drei Frauen arbeiten für die Fachstelle für Demokratie und Toleranz des Landkreises.

Auf die Frage, wie sie die aktuelle Lage demokratiefeindlicher Vorfälle und Tendenzen im Gießener Land einschätzen, halten sie für einen Moment inne. Rechtsextreme Aktionen im Lumdatal, die die Gründung der Fachstelle vor sechs Jahren maßgeblich angestoßen haben, sind zwar zurückgegangen - demokratiefeindliche Vorfälle insgesamt allerdings eher nicht.

Rassistische Äußerungen beispielsweise seien in den vergangenen Jahren regelrecht »salonfähig« geworden, sagt Erb, im politischen Diskurs werde über Flüchtlinge offen von »messerstechenden jungen Männern« gesprochen.

Gleichzeitig habe sich die Sensibilisierung für derartige Äußerungen deutlich erhöht, räumt Homsi ein. Die Fachstelle erhalte auch aufgrund ihrer zunehmend engen Vernetzung im Kreis mehr Meldungen. »Rassismus an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen wird häufiger an uns herangetragen«, berichtet Homsi und nennt Beispiele. So passiere es, wenn ein Kind ausländischer Eltern an Corona erkrankt, dass Lehrer und Mitschüler in Äußerungen eine Verbindung der Erkrankung zum Migrationshintergrund knüpfen.

Die Fachstelle werde hin und wieder auch involviert, wenn es um den Übergang von Schülern von der vierten in die fünfte Klasse geht. Im Rahmen der Empfehlung der Schulform machen sich nach der Beobachtung der Fachstelle bei Lehrern in manchen Fällen Vorurteile gegenüber Kindern aus Migrantenfamilien bemerkbar. Eine Empfehlung für das Gymnasium bleibe dann aus, weil die Kinder angeblich weniger Unterstützung von ihren Eltern erhielten. »Das Problem ist, dass Kinder, die Diskriminierung erfahren, das in sich aufnehmen und glauben, dass so etwas dazugehört«, sagt Homsi.

Um so wichtiger seien Ermutigung und Stärkung. Kinder, ergänzt die Sozialpädagogin, könnten beispielsweise in Kulturvereinen mit Menschen in Kontakt kommen, die ähnliche Erfahrungen im Leben hatten.

Anfang November hat der Beauftragte der Landesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Uwe Becker, die Theo-Koch-Schule in Grünberg besucht. Er hat dabei das Engagement gegen Judenhass an der Schule als vorbildlich bezeichnet.

Vor zwei Jahren hatten Neuntklässler der Schule auf dem Heimweg von einer Studienfahrt zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald antisemitische Lieder abgespielt, der Vorfall hatte die Schule erschüttert. Becker lobte die Einrichtung nun dafür, sich nicht weggeduckt, sondern Haltung gezeigt und den Fall aufgearbeitet zu haben. Die Fachstelle für Demokratie und Toleranz des Landkreises war dabei im Hintergrund involviert. »Wir haben Kontakte vermittelt«, erzählt Erb. »Außerdem waren wir an der Konzeption und an der Durchführung von Workshops zur Aufarbeitung beteiligt.«

Erb fügt hinzu: »Der Fall in Grünberg ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir arbeiten.« Die Fachstelle pflege Kontakte mit Sozialarbeitern, Schulen, der Jugendpflege und weiteren Fachstellen. »Wir versuchen, Menschen zu verbinden«, sagt Erb. »Wie ein Scharnier.«

Seit einem knappen Jahr verstärkt Fritzsche die Fachstelle des Landkreises, ihre bis 2024 befristete Stelle im Rahmen ihrer Aufgabe der Demokratieförderung und phänomenübergreifenden Extremismus-prävention wird durch das Landesprogramm »Hessen - Aktiv für Demokratie und gegen Extremismus« finanziert. Im Gespräch betonen sie und ihre Kolleginnen, dass der Bereich der Schule nur einen kleinen Teil ihrer Arbeit ausmache. So erfasst die Fachstelle demokratiefeindliche Vorkommnisse im Landkreis im Rahmen eines jährlich veröffentlichten Monitorings, gibt Kurse und Seminare, informiert in Vorträgen und Workshops beispielsweise über sogenannte Reichsbürger, Hassrede und Fake News.

Homsi erzählt von einem Workshop für Lehrer zum Thema Rassismus. Die Teilnehmer schlüpfen in unterschiedliche Rollen, zum Beispiel in die eines afrodeutschen Lehramtsreferendars. »Wir haben Fragen gestellt, wie: Darfst du überall hinreisen? Kommst du in jede Diskothek? Kannst du jeden Beruf ausüben, den du möchtest?« Bei jeder Bejahung sollten die Teilnehmer einen Schritt nach vorne gehen. In dieser Übung werde ein Abbild der Gesellschaft deutlich, dass es Gewinner und Verlierer gibt, erklärt Homsi. »Teilnehmende wundern sich dann, warum der Referendar so weit hinten steht. Aber so ist das wahre Leben.« Es gehe darum, sich über Chancengleichheit und Privilegien Gedanken zu machen.

Demokratie heiße nicht nur: Ich gehe mal wählen, betont die Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin Fritzsche. Doch erreicht die Fachstelle mit ihren Angeboten auch Menschen, die demokratiefeindlich eingestellt sind? Bewirkt oder fördert sie zumindest ein Umdenken, ein Hinterfragen deren Weltbilds?

Manchmal sei sie ernüchtert, gesteht Homsi. »In persönlichen Erlebnissen hat man immer wieder das Gefühl, dass man bei null anfangen muss.« In anderen Situationen aber spüre sie eine Sensibilisierung für das Thema.

Bei Menschen mit gefestigtem extremistischen Weltbild sei es ohnehin schwierig, die Einstellung zu verändern, betont unterdessen Fritzsche. Wichtig sei aber eben auch, »die Menschen drumherum«, die sich für Demokratie und Toleranz engagieren, überhaupt die Gesellschaft in diesem Bereich zu stärken und »eine menschenfreundliche Einstellung zu fördern.« Das sei das zentrale Anliegen der Fachstelle.

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