»Reden muss man mit den Leuten«

In 100 Tagen im Amt kann ein Bürgermeister noch nicht viel bewegt haben. Aber er kann schauen, wo er Prioritäten setzt und wie er mit welchen Fragen umgeht. Marc Nees, seit Anfang Februar Chef im Wettenberger Rathaus, spricht über explodierende Kosten, Kunden-Orientierung und sein gutes Verhältnis zum Ersten Beigeordneten Ralf Volgmann.
Auf dem Besprechungstisch im Büro steht ein Schälchen mit Hanuta, Bounty-Minis und Duplo-Riegeln. »Dafür habe ich eine Schwäche«, räumt Marc Nees unumwunden ein. Was ihm auch anzusehen ist. Doch dazu steht er. Und hat gute Vorsätze. Wenn im Juni endlich sein neues »Cube« geliefert ist, dann will er den Weg zur Arbeit von Wißmar ins Rathaus in Krofdorf mit dem Rad absolvieren. Ehrensache zudem, dass er das E-Bike bei Thomas Langner (Delta-Bike) in Wettenberg geordert hat. Schließlich kennen sich die beiden seit Grundschulzeiten in Wißmar.
Mal abgesehen von den guten Vorsätzen - was gibt es sonst an Neuerungen im Rathaus, Herr Bürgermeister?
Erst noch mal zum Stichwort Fahrrad: Wir haben für die Verwaltungsmitarbeiter ein Jobrad-Angebot. Und wollen das weiter ausbauen. So wird am Sorguesplatz gerade eine Garage zum Fahrradstellplatz umfunktioniert, es wird neue Bügel zum Anschließen und Steckdosen zum Laden geben.
Was steht für die kommenden Monate an?
Ganz oben steht bei mir das Kosten-Thema. Wir haben etliche Großprojekte begonnen oder in der Pipeline: Anbau Feuerwehr Wißmar, Kita-Neubau Finkenweg Krofdorf-Gleiberg, Umbau der »Nau Schul« Launsbach, Planungen für die Neubauten der Kita »Pfiffikus« Wißmar und Rathaus-Erweiterung. Da müssen wir die Kosten ständig und ständig hinterfragen. Sonst sehe ich die Gefahr, dass Kosten-Situationen entstehen, die uns nicht mehr ruhig schlafen lassen.
Aber Wettenberg ist eine wohlhabende Gemeinde
und das soll auch so bleiben! Es geht nicht darum, was zu streichen. Aber eben immer wieder genau hinzuschauen.
Was hat sich für Sie persönlich mit dem neuen Amt geändert?
Wenn ich es schaffe, donnerstags gegen 21 Uhr zu meinem Stammtisch bei Steffi im Erlenhof zu gehen, dann werde ich schon gefragt: »Geht’s dir nicht auf den Sender, dauernd und überall angesprochen zu werden?« Aber ich empfinde das nicht als störend.
Ehrlich nicht?
Nein. Überhaupt nicht. Auch wenn der Einkauf im Edeka am Samstagmorgen vielleicht eine Dreiviertelstunde länger dauert. Aber was ich da mit den Menschen besprechen oder im Idealfall schnell abklären kann, das drückt in der kommenden Woche nicht mehr. Oftmals sind es ja wirklich nur Kleinigkeiten...
An was denken Sie da?
Nicht selten sind es wirklich eher kleinere Anliegen, mit denen die Menschen kommen. Aber wenn sie vier Wochen kein Feedback bekommen, dann nährt das den Frust.
Wollen Sie damit sagen, dass das bislang im Rathaus, in der Verwaltung nicht geklappt hat?
Das habe ich so nicht gesagt. Aber ich bin dafür angetreten, dass es noch besser werden kann. Deshalb habe ich auch die Anlaufstelle für Vereine zur Chefsache gemacht. Darum kümmert sich jetzt mein Vorzimmer. Das wollte ich gerne direkt hier bei mir haben, damit manches schnell geklärt und wegentschieden werden kann, bevor es lange ansteht und besagten Frust macht.
Schnell wegentscheiden, vom Tisch räumen - kennen Sie das aus Ihrer bisherigen Arbeit in der Getränkelogistik?
Stimmt schon. Aber wie gesagt, das geht hier im Rathaus nur bei kleineren Dingen. In der Verwaltung und der Politik geht es weniger, denn Gremien ticken da anders, und vieles ist doch noch mal mit der zuständigen Abteilung und dem Sachbearbeiter rückzukoppeln. Wichtig aber, dass wir uns als Team in der Verwaltung und als Dienstleister für die Bürger verstehen.
Eine Wahlkampf-Aussage.
Lassen Sie es mich so erklären: Der Worst Case im Rathaus wäre die Antwort am Telefon: »Dafür bin ich nicht zuständig.« Bitte nicht missverstehen: Das habe ich so hier im Rathaus noch nicht gehört. Aber wenn es das gäbe, dann würde mich das tierisch sauer machen. Dafür bin ich zu sehr Vertriebmensch und kundenorientiert.
Damit haben Sie auch im Wahlkampf geworben
»Wohlfühlen in Wettenberg« war mein Motto. Es gilt weiterhin. Ich will, dass sich unsere Bürger hier wohlfühlen.
Stichwort Bürger und Bürgerbeteiligung: Auch das war für Sie großes Thema. Und jetzt?
Das ist es immer noch! Am Dienstag erst hatte ich mit rund 30 Anliegern im Krofdorfer Kastanienweg eine angeregte Diskussion über den Verkehr an der Grundschule. Das war zum Teil emotional. Aber zum Schluss gab es Applaus auf offener Bühne. Reden muss man mit den Leuten! Und das muss auch auf anderen Ebenen laufen.
Wo denn, bitte?
Etwa bei den weiteren Beratungen zum Masterplan Wettenberg 2030. Da ist in den Arbeitsgruppen, die jetzt im Frühsommer gebildet werden, die Beteiligung der Bürger gefragt, ja hochgradig erwünscht! Wir haben hier in Wettenberg viele Bürger mit riesiger Kompetenz, die wir sonst teuer einkaufen müssten. Dieses Wissen, diese Berufs- und Lebenserfahrung der Menschen möchte ich einbinden.
Man könnte beispielsweise Beiräte zu Sachthemen bilden, die die politischen Gremien flankieren
Das ist eine Möglichkeit. Oder die Menschen als Gastreferenten in die Ausschüsse bitten. Dazu denke ich an weitere Beteiligungsmodelle: Wir müssen einfach mehr in die Bevölkerung reinfragen. Und zwar möglichst niedrigschwellig. Im persönlichen Austausch und auf digitalen Kanälen. Da stelle ich mir ein Forum zum Mitdiskutieren vor, gegebenenfalls auch mal zum Abstimmen. Bis hin zu einem anonymen elektronischen Kummerkasten. Das ist in Arbeit.
Sie selbst geben sich derzeit, anders als vor der Wahl, im politischen Diskurs eher zurückhaltend.
Stimmt. Ganz bewusst will ich mich nicht zu früh an Sachdiskussionen beteiligen, nehme mich zurück. Ich will nicht zu früh Entscheidungen vorspuren oder kanalisieren nach dem Motto: »Wenn der Chef das sagt «. Da möchte ich Raum für anderen Input geben. Und zwar, bevor ich meinen Senf dazugebe.
Themenwechsel: Was sagt Ihre Familie zu den Veränderungen - und den Arbeitszeiten?
Mein Arbeitstag beginnt um 7.30 und endet gegen 21.30. Uhr. Ich bin vier bis fünf Abende in der Woche nicht zu Hause. Auch ist ein Stück privater Anonymität verloren gegangen. Das war absehbar. Aber wir haben darüber gesprochen. Meine Partnerin und unser Sohn tragen das mit.
Es gab mal den Gewerkschafts-Slogan »Samstags gehört Vati mir «
Das versuche ich schon. Und letzten Samstag, da bin ich tatsächlich morgens ins Büro gefahren, um zu schauen, ob ich nichts vergessen, nichts übersehen habe. Denn der Kalender war für den Tag leer. Ansonsten schauen wir, Dinge zusammen zu machen. Zum Stadtradeln-Auftakt auf dem Brandplatz in Gießen am Wochenende vor 14 Tagen, das ist der Junior mitgeradelt.
Sonstige Überraschungen im Amt?
Nein, es ist noch nichts passiert, was mich hier völlig überrascht hätte. Sehen Sie: Bevor ich mich für die Kandidatur entschieden und diese öffentlich gemacht habe, da hatte ich bald drei Monate fast ohne Schlaf. Ich habe abende- und nächtelang mit meiner Partnerin und einigen engen Vertrauten diskutiert und beraten. Da habe ich in Gedanken unheimlich viel durchgespielt. Eine brutal belastende Zeit für mich. Aber es war gut so. Deshalb konnte mich vieles nicht mehr überraschen.
Wie ist es um die Arbeit mit den Gremien bestellt? Sie sind als Parteiloser von den Freien Wählern unterstützt worden. Rot-Grün hat die Mehrheit in der Vertretung.
Ich erfahre da viel Respekt im Umgang miteinander. Und ich bemühe mich, genau diesen Respekt wieder zurückzugeben. Ich habe heute den Eindruck, dass die Themen sehr sachorientiert diskutiert werden, weniger parteipolitisch.
Wieso betonen Sie so sehr das »heute«?
Das Klima scheint mir anders als vor ein paar Monaten, als ich die Sitzungen noch als Gast erlebt habe. Parteipolitik hat im Mikrokosmos einer Kommune ohnehin einen kleinen Stellenwert. Da gilt es, andere Entscheidungen zu treffen als im Bundestag.
Und Ihr Verhältnis zum Ersten Beigeordneten, Ihrem Stellvertreter Ralf Volgmann? Der Sozialdemokrat und Sie waren ja schließlich Konkurrenten ums Amt
Ich bin nach wie vor extrem dankbar, dass und wie Volgmann im Ehrenamt das Dezernat (Jugend und Familie, Anm. d. Red.) führt. Er steckt in diesen Themen tief drin, hat da ein hohes Maß an Kompetenz. Er ist der richtige Mann am richtigen Fleck. Und das ist auch für mich eine Entlastung. Ralf Volgmann informiert mich über nahezu alles, was und wie er entscheidet - und ich umgekehrt.
Also alles okay?
Ja. Ich halte unsere Zusammenarbeit für sehr fruchtbar. Es war die richtige Entscheidung, ihn zu bitten, das Dezernat weiterzuführen.