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Erziehermangel im Kreis Gießen: Lebenshilfe und Diakonie starten Experiment in der Türkei

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Von: Stefan Schaal

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In den Bewerbungsgesprächen sei auch die Frage entscheidend gewesen, ob sich die Kandidaten die Auswanderung in den Kreis Gießen wohlüberlegt haben, berichten Rebecca Neuburger-Hees und Sigrid Unglaub (v. r.). »Viele kommen mit ihren Familien hierher.« © pv

In Istanbul haben Vertreter der Lebenshilfe und des Diakonischen Werks Gießen erste Bewerbungsgespräche mit türkischen Erzieherinnen und Sonderpädagogen geführt.

Gießen/Istanbul - Die erste Etappe ist über die Bühne gegangen, ein Experiment mit einer Menge an Gesprächsstoff hat begonnen. Während sämtliche Kommunen im Kreis über einen sich verschärfenden Mangel an Erzieherinnen und Erziehern in den Kitas klagen, haben Vertreter der Lebenshilfe Gießen und des Diakonischen Werks vergangene Woche Bewerbungsgespräche mit 25 Fachkräften geführt - 2300 Kilometer vom Sitz der Lebenshilfe in Garbenteich entfernt, in Istanbul in der Türkei.

Was die Lebenshilfe zu diesem Schritt bewegt hat, bringt die Personalleiterin Linda Hauk auf den Punkt. »Einer muss den Anfang machen«, sagt sie. Seit drei Jahren mache sich auch in den 14 Kindertagesstätten der Lebenshilfe im Kreis ein dramatischer Mangel an Erzieherinnen und Erziehern mit voller Wucht bemerkbar. »Er wird auf den Schultern unserer Mitarbeiter in den unterbesetzten Kitas ausgetragen«, sagt Hauk. »Jede unterstützende, motivierte und fachlich qualifzierte Kraft, die einen guten Bezug zu Kindern hat, ist wichtig. Egal, welche Sprache sie spricht.«

Die Lebenshilfe und das Diakonische Werk leisten mit dem Experiment Pionierarbeit. »In der Pflege und in der Gastronomie ist es gang und gäbe, Fachkräfte im Ausland zu akquierieren«, sagt Hauk, Im Erziehungsbereich und in der Eingliederungshilfe, erklärt sie, betrete ihr Unternehmen aber durchaus Neuland.

Kreis Gießen: Erzieher starten in der Türkei für ein halbes Jahr mit einem Deutschkurs

In den Räumen einer Sprachschule in Sisli haben sich die Vertreter der Geschäftsführung nun vergangene Woche mit Bewerbern getroffen und sich bereits für erste Kandidaten entschieden. »Wir wollen noch mit ein paar Bewerbern online Gespräche führen«, berichtet Rebecca Neuburger-Hees, die bei der Lebenshilfe den Kita-Bereich leitet.

Fest steht, dass ab Herbst zehn Erzieherinnen und Erzieher, die in ihrer türkischen Heimat einen Bachelor-Abschluss für frühkindliche Pädagogik abgelegt haben, in sechs Kitas in Gießen, Watzenborn-Steinberg, Garbenteich, Reiskirchen und Annerod als fest angestellte Fachkräfte arbeiten. Drei Sonderpädagogen sind für die Kinder- und Jugendhilfe der Burg Nordeck vorgesehen. Das Diakonische Werk will zudem zwei Erzieherinnen in einem neuen Familienzentrum in der Gießener Weststadt einsetzen.

Wenn die Bewerber in den kommenden Wochen ihre Zusage erhalten haben, starten sie in der Türkei für ein halbes Jahr mit einem Deutschkurs auf B1-Niveau, gleichzeitig läuft das Anerkennungsverfahren. Das in Gießen beheimatete Sprachportal unterstützt die Lebenshilfe. Während die Erzieherinnen ab Oktober oder November in den Kitas anfangen, legen sie einen weiteren Sprachkurs auf B2-Niveau ab.

Erziehermangel im Kreis Gießen: Größte Herausforderung dürfte die Sprachbarriere sein

Die größte Herausforderung, räumen Hauk und Neuburger-Hees ein, dürfte die Sprachbarriere sein. Einige der Bewerber in Istanbul haben die Vertreter der Lebenshilfe in deutscher Sprache gegrüßt und beherrschen auch einige Sätze, eine Kandidatin hat in Freiburg im Rahmen des Erasmus-Programms studiert. Doch ein Großteil muss die deutsche Sprache ohne Vorkenntnisse erlernen - um dann im Kreisgebiet Kleinkinder in deren sprachlichen Anfängen zu begleiten. Dies wirft Fragen auf.

Befürchtungen, dass die Sprachbarriere ein Problem darstellt, könne sie nachvollziehen, sagt Hauk. »Wenn die Erzieherinnen hier täglich mit den Kindern und Jugendlichen und den Teams arbeiten, lernen sie die Sprache auch«, ist sie überzeugt. »Am Ende ist es die kleinste Barriere. Weil man sie überwinden kann.«

Die Lebenshilfe unternehme angesichts des Fachkräftemangels zahlreiche Bemühungen, bilde im Kita-Bereich derzeit 23 Erzieherinnen aus. »Wir finden aber nicht ausreichend Kräfte.« Das Experiment mit türkischen Kandidaten sei einer von vielen Schritten. Auch kulturelle Unterschiede der türkischen Kräfte im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen werde man im Blick haben. Die Lebenshilfe sei indes neutral in Religionsfragen.

»Ich war skeptisch«, gesteht Neuburger-Hees. Nach den Bewerbungsgesprächen in der Türkei sehe sie sich aber in dem Vorhaben bestärkt. Fachlich seien die Bewerber gut qualifiziert. Weil in der Türkei die Betreuung von Kindern ab vier Jahren eher verschult sei, sehen die Bewerber in Deutschland eine Möglichkeit, ihren Beruf ausleben zu können. Alle Kandidaten verfügen über berufliche Erfahrung. »Die jüngsten sind 25, die meisten 30 bis 40 Jahre alt.« In den Bewerbungsgesprächen sei auch die Frage entscheidend gewesen, ob sich die Kandidaten die Auswanderung in den Kreis Gießen wohlüberlegt haben. »Viele kommen mit ihren Familien hierher.«

Erziehermangel: „Unsere Pfleger gehen nach Schweden, wir werben Kräfte aus Bulgarien ab“

Auf die Frage, ob man der Türkei nicht gut ausgebildete Fachkräfte entreißt, erklären Neuburger-Hees und die Leiterin des Diakonischen Werks, Sigrid Unglaub, das sei in anderen Bereichen wie in der Pflege international gang und gäbe. »Unsere Pfleger gehen nach Schweden, wir werben Kräfte aus Bulgarien ab.«

In den kommenden Monaten wollen die Vertreter der Lebenshilfe mit den Kandidaten über Videokonferenzen den Kontakt halten, bevor diese im Herbst in den Kreis ziehen werden. »Wir können über den Fachkräftemangel klagen«, sagt Neuburger-Hees. »Aber wir müssen auch Dinge ausprobieren.« Eine Garantie, dass das Experiment Erfolge trägt, gebe es nicht. »Aber das haben wir auch in normalen Bewerbungsverfahren nicht. Wir probieren das jetzt aus.« (Stefan Schaal)

„Zuckerfest und Nikolaustag“

Dass im neuen evangelischen Familienzentrum des Diakonischen Werks in der Gießener Weststadt ab Herbst zwei Erzieherinnen aus der Türkei arbeiten sollen, die nicht christlich sind, sei arbeitsrechtlich möglich, wenn sich keine Fachkräfte finden, erklärt die Diakonie-Leiterin Sigrid Unglaub. Wichtiger sei das »inhaltliche Argument«, dass viele Familien in der Weststadt einen muslimischen Hintergrund haben und die Beschäftigung zweier türkischer Erzieherinnen daher sinnvoll sei. So werde man im Kita-Betrieb zum Beispiel den Nikolaustag und das Zuckerfest berücksichtigen.

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